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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Machtergreifung
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Opa war kein Nazi
>> Wie aus Vergangenheit Geschichte wird, zählt zu den zentralen Fragen der Geschichtswissenschaft. Weitgehend unbeachtet ist dabei bislang geblieben, in welcher Weise Geschichte vom sogenannten Laienpublikum in Schule, Beruf und Familien rezipiert, angeeignet und umgedeutet wird. Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat in den letzten Jahren mit seinem Forschungsprojekt >>Tradierung von Geschichtsbewusstsein<< die intergenerationelle Weitergabe der NS-Vergangenheit innerhalb von Familien untersucht. Seine desillusionierende Ergebnisse haben öffentliches Erstaunen, Erschrecken und Skepsis ausgelöst.<<
WerkstattGeschichte 30/2001
Autor: H. Welzer/ S. Moller / K. Tschuggnall
ISBN: 3-596-15515-0

Buchauszug
Herr Hofer, Jahrgang 1925, Napola-Schüler, Mitglied der Waffen-SS und der Leibstandarte-SS Adolf Hitler, präsentiert sich im Einzelinterview wie im Familiengespräch als geläuterter Nationalsozialist. Während er noch auf die Nachricht vom Tod des Führers hin in sein Tagebuch einträgt: »Mein bester Kamerad ist gefallen!«, zeigt er sich in der retrospektiven Darstellung schon bald erschüttert über die nationalsozialistischen Verbrechen. Herr Hofer, belesen und gut ausgebildet, macht im Nachkriegsdeutschland Karriere als Manager und trägt auf seine Weise zum Wiederaufbau bei. Über seinen Beitritt zur Waffen-SS, seinen Eintritt in die Leibstandarte, seine Teilnahme am Russlandfeldzug erzählt er ebenso unbefangen wie darüber, dass er 1943 in der SS-Division »Reich« in der Ukraine eingesetzt war.
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Der Interviewer fragt in diesem Zusammenhang:

Interviewer: »Gibt es denn auch Geschichten, die Sie Ihrer Tochter oder Ihrer Enkelin nicht erzählen würden?«

Herr Hofer antwortet:

Rainer Hofer: »Nein, nein, nein. Da wäre ich also völlig offen und und äh, ich brauch' ihr nicht zu erzählen, dass ich also Juden erschossen habe (haut auf den Tisch) oder so was, selbst wenn ich's getan hätte, würd' ich's erzählen. Warum? Es ist meine Tochter und ich ich habe mein Leben gelebt, ich kann ja nichts davon irgendwie in den Orkus der Vergangenheit versinken lassen. Das das geht nicht, nein. Also, es gibt nichts, wo ich sagen würde: Das erzähl' ich ihr nicht! Selbst wenn es also die Ehre deutscher Soldaten tangieren sollte. Erinnere mich also, dass wir einmal einen Angriff gefahren haben, und als wir zurück kamen, äh, mit Infanterie aufgesessen usw, da haben also 'n paar russische Soldaten die Idiotie be/äh äh gemacht, sich äh zu ergeben, nech (Mhm). Die haben natürlich keinen Augenblick länger gelebt (klopft auf den Tisch). Aber das war natürlich auch so 'ne Sache, wo sollten/sollten se auf den Panzern mitfahren, und hätten da vielleicht noch irgendwo 'ne versteckte Handgranate denn noch (lacht) irgendwo untergesteckt oder so, nech (Mhm). Wenn die liegen geblieben wären, war nichts passiert (Mhm). Aber das sind eben/auch das würd' ich meiner Tochter erzählen, obwohl es also eigentlich die Ehre des deutschen Soldaten irgendwie tangiert, wenn mal/das mal so sagen darf, 'ne (Jaja, mhm). Aber da kann ich also nicht sagen, dass es irgendwas gäbe, was ich, was ich ihr nicht oder meiner Enkelin auch, 'ne. Da gibt's also gar nichts (Mhm). Warum sollte ich auch?«

Wie um die prätendierte Offenheit zu belegen, beschreibt Herr Hofer dem Interviewer ein Verbrechen, das sogar »die Ehre des deutschen Soldaten« zu beflecken geeignet ist. Eine Problematisierung dieses Verbrechens aus heutiger Sicht findet darüber hinaus aber in keiner Weise statt: Ganz im Gegenteil argumentiert Herr Hofer mit einer zweckrationalen Begründung, warum die russischen Gefangenen sofort ermordet werden mussten - wobei er ganz offensichtlich davon ausgeht, dass dieses Kalkül auch dem Interviewer einleuchten muss. Im Übrigen sei das alles ja Teil seines gelebten Lebens - und warum, so fragt Herr Hofer rhetorisch, sollte man das alles nicht erzählen? Offenheit lässt sich Herrn Hofer also gewiss nicht absprechen. Im Familienarchiv der Hofers werden sogar Briefe aufbewahrt, die er von der Ostfront in die Heimat geschickt hat. Über einen davon spricht Herr Hof er auch im Interview:

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Rainer Hofer: »Ich bin heute also entsetzt, wie ich damals geschrieben habe. Also was, was, was (lacht) mir heute gar nicht mehr in den Kopf rein will. Ich habe denn also/äh wir haben also auf der Gegenseite natürlich auch Russinnen in Uniform und mit Gewehr und bewaffnet (Ja) gesehen und eine hab', also nun stellen Sie sich mal vor, mit (klopft auf den Tisch) 18 Jahren, hab' ich äh äh zusammengeschossen mit meinem MG und und schreib' denn also ganz stolz, äh der der Kopf und und die Brust waren nur noch ein blutiger Klumpen oder sowas (Mhm). Heute wundert man sich, wie man das damals schreiben konnte.«

Wohlgemerkt: Anlass zu wundern gibt nicht, wie man das tun, sondern wie man darüber schreiben konnte - ein Hinweis auf die subjektive Bewertung der Tat, die uns noch beschäftigen wird. Hier bleibt anzumerken, dass es recht ungewöhnlich ist, dass solche Dokumente im Familienarchiv aufbewahrt bleiben und den Kindern bekannt sind. Gewöhnlich wird allenfalls in ziemlich nebulöser Form davon gesprochen, »dass da irgendetwas war« - was den Zuhörerinnen und Zuhörern, wie im vorangegangenen Kapitel ausgeführt, die Möglichkeit eröffnet, sich jenen Reim auf die wie verwischt dargestellten Ereignisse zu machen, der sie am besten mit dem zentralen Konflikt deutscher Familiengeschichten ein halbes Jahrhundert nach dem »Dritten Reich« leben lässt: mit dem Konflikt nämlich, der daraus resultiert, dass die Angehörigen der Kinder- und noch mehr der Enkelgenerationen einerseits den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus und die Tatsache des Holocaust umstandslos anerkennen, andererseits aber ihre eigenen Eltern bzw. Großeltern so positionieren, dass von diesem Grauen kein Schatten auf sie fällt. Das ist keine leichte Aufgabe, zumal wenn, wie im Fall von Rainer Hofer, die Verbrechen auch noch schriftlich fixiert sind. Regina Seiler, seine Tochter, kennt diese Briefe, aber überraschenderweise betont sie im Einzelinterview wie im Familiengespräch mehrfach, wie sehr ihr daran liegt, »herauszubekommen, was die Leute damals gedacht« haben:

Regina Seiler: »Ich mein' äh ich/ich kann mir einfach vom deutschen Volk es nicht vorstellen, selbst so mein Vater oder sowas, die/ich glaube wirklich, die konnten sich das nicht vorstellen, dass sowas überhaupt passiert.«

Und obwohl Frau Seiler, wenn auch in euphemistischer Weise, im Interview auf den erwähnten Brief Bezug nimmt (»und da schrieb er an sein Elternhaus im Krieg, äh, dass sie gerade in ein russisches Dorf eingefallen sind, er war damals 16 oder 18,das weiß ich jetzt nicht genau, und mich hat so erschüttert, wie äh euphorisch er davon gesprochen hat«), beschäftigt sie das ganze Interview hindurch die Frage, ob sich denn die Deutschen nicht haben »vorstellen« können, dass so etwas wie der Vernichtungskrieg und der Holocaust geschähen. Wie ist diese Frage motiviert, die doch ganz offenbar von der Tatsache absieht, dass ihr Vater sich die Verbrechen keineswegs vorzustellen brauchte, da er sie doch selbst begangen hatte? Nun: Erstens hat die Frage, ob der Vater sich wohl hat vorstellen können, was geschah, die Funktion, ihn aus dem Kreis der Täter hinauszumanövrieren in den weit unverdächtigeren Kreis von zufälligen Zeugen oder bestenfalls Mitläufern - denn vorzustellen hat man sich ja nur das, was andere tun und wovon man nur von ferne Kenntnis hat. Zweitens argumentiert Frau Seiler - und zwar in ganz ähnlicher Weise wie ihr Vater - im Rahmen einer Doppelstruktur von Wissen und Nichtwissen: Die Verbrechen hat es ganz unzweifelhaft gegeben, aber niemand hat sie sich vorstellen können. Ihr eigener Vater war daran beteiligt, aber die Tochter nimmt das nicht zur Kenntnis.

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Wie diese Doppelstruktur im Sprechen über die Vergangenheit funktioniert, zeigt sich im Familiengespräch: Denn verblüffenderweise findet sich hier - und keineswegs nur in der Familie Hofer - eine ganze Reihe von Darstellungen, die beim distanzierten Lesen vollständig paradox erscheinen, beim engagierten Zuhören in der unmittelbaren Gesprächssituation aber offenbar als kohärentes Bild von der Vergangenheit empfunden werden: So erzählt Herr Hofer etwa, 1944, also nach seinem Einsatz in der Ukraine, bei einer Panzerabteilung der SS in Frankreich gewesen zu sein und von einem Sturmbannführer erfahren zu haben,

Rainer Hofer: »dass also im Osten, in Russland Partisanen sowieso, aber auch andere Leute durch Genickschuss und so weiter umgebracht würden und so weiter. Ich erinnere mich (lacht), dass wir uns unter Kameraden später drunter/drüber unterhalten haben, wir haben also gedacht: Der spinnt!«

Diese Einschätzung hat Herr Hofer, nachdem er ein halbes Jahr zuvor genau das getan hat, von dem er nun nicht glauben kann, dass andere es tun. Es wäre gewiss eine Unterschätzung der Wirkungsweise der Doppelstruktur von Wissen und Nichtwissen, wenn man sagen würde: Herr Hof er lügt. Denn gerade der Umstand, dass er ja von bei-dem erzählt - von seinen eigenen Taten und von der Ungläubigkeit hinsichtlich der Taten der »anderen« - zeigt, dass die eigene Tat subjektiv in einen sinnhaften Zusammenhang partikularer Rationalität und Moralität eingeordnet werden kann und als solche dem Gesamtvorwurf des Verbrecherischen gar nicht zugerechnet wird. Mit anderen Worten: Täter wie Herr Hofer rechnen ihre Taten nicht zum Holocaust - und gerade diese Selbstwahrnehmung und -darstellung liefert ein Deutungsangebot, das von den Nachfolgegenerationen bereitwillig angenommen wird. Auch im Gruppengespräch konzentriert sich Frau Seiler mit ostentativen Fragen darauf, von ihrem Vater zu erfahren, warum niemand sich hat »vorstellen« können, was geschah - womit sie ihn vor dem Wissen schützt, über das er und sie selbst eigentlich verfügen. In der familialen Interaktion der Hofers tradiert sich nicht das Wissen um die Verbrechen, sondern die Art und Weise, wie man etwas zugleich wissen und nicht wissen kann.

Quelle: H. Welzer/ S. Moller / K. Tschuggnall
Opa war kein Nazi
ISBN: 3-596-15515-0
S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt 2002, 10,90 Euro

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