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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Die 68er-Bewegung und ihre Folgen
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Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Die Ereignisse, auf die sich der spätere Mythos "1968" gründete, erreichten mit dem "Prager Frühling", den Pariser Mai-Unruhen und den studentischen Protesten in der Bundesrepublik im Frühjahr 1968 ihren Höhepunkt....
Autor: Manfred Görtemaker
ISBN: 3893314563

Buchauszug
Bei der Protestbewegung der sechziger Jahre handelte es sich somit nicht um
eine Rebellion aus Armut oder sozialer Benachteiligung, sondern um das Aufbegehren von Angehörigen des Bildungsbürgertums bzw. der Mittelschicht, die sich in Aktionen weniger von unmittelbaren materiellen und ökonomischen Interessen als von relativ autonomen «moralischen und ideologischen Betrachtungen» leiten ließen. Dabei erfolgte der Ausbruch der Revolte durchaus überraschend. Noch schrieb der Soziologe Ludwig von Friedeburg zum Thema Jugend: «Überall erscheint die Welt ohne Alternativen, passt man sich den jeweiligen Gegebenheiten an, ohne sich zu engagieren, und sucht sein persönliches Glück in Familienleben und Berufskarriere. In der modernen Gesellschaft bilden Studenten kaum mehr ein Ferment produktiver Unruhe. Es geht nicht mehr darum, sein Leben oder gar die Welt zu verändern, sondern deren Angebote bereitwillig aufzunehmen und sich in ihr, so wie sie nun einmal ist, angemessen und distanziert einzurichten.»
In den USA, aber ebenso in einigen westeuropäischen Ländern, wie Großbritannien und den Niederlanden, deutete allerdings bereits vieles auf ein wachsendes Unruhepotenzial unter der jungen Generation hin. So fand der Protest gegen die Langeweile und spießbürgerliche Routine der Konsumgesellschaft in den USA längst seinen Ausdruck im Rock'n Roll, der nach Ansicht der meisten Beobachter den «Beginn der Revolution» markierte. Spätestens seit 1964 gehörten Hippies - als Repräsentanten von Ungebundenheit, Freiheit, Euphorie, Ekstase und Rausch - und so genannte «Gammler» auch zum alltäglichen Bild der europäischen Metropolen.
In der Bundesrepublik setzten die Beat- und Rock-Musik sowie die Einführung der «Pille» zur Empfängnisverhütung Mitte der sechziger Jahre ebenfalls eine kulturelle und sexuelle Revolution in Gang, bei der sich die traditionellen Geschlechterrollen verwischten und der Kampf um lange Haare sowie um Jeans- und Gammel-Look sich zum «Vehikel der Emanzipation von autoritärer Kontrolle in Familie, Schule, Betrieb und Öffentlichkeit» entwickelte.
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Insgesamt schien es jedoch zunächst, als sei das Protestpotenzial in der Bundesrepublik geringer als in anderen westlichen Ländern. Die deutschen Tugenden von Ordnung, Sauberkeit und Fleiß, überliefertes Obrigkeitsdenken, die Enge des geistigen und räumlichen Milieus sowie nicht zuletzt die starke antikommunistische Grundstimmung, die aufgrund der deutschen Sonderrolle im Ost-West-Konflikt besonders ausgeprägt war, machten die zurückhaltende Einschätzung von Friedeburg verständlich. Unterbrochen wurde die Ruhe nur durch die «Schwabinger Krawalle» von 1962, die ein frühes Signal für den subkulturellen Protest gegen die Erstarrung der bestehenden Ordnung setzten. Die in München aus den künstlerisch-anarchistischen Kreisen der «Subversiven Aktion» um Dieter Kunzelmann ausgelösten Unruhen, die unter dem Einfluss der niederländischen Provos noch auf einem ästhetisierten, spontaneistischen Politikverständnis basierten, das Politik vor allem als symbolische Provokation sowie als Happening zur Versinnbildlichung gesellschaftlicher Widersprüche begriff, wurden damit zu Vorboten jener Auflehnung gegen das politische System der Bundesrepublik, die bald zum herausragenden Merkmal der Bewegung von «1968» werden sollte.
Wie in den USA, so stellten auch in Westeuropa und der Bundesrepublik jene sozialen Randgruppen, die sich durch ihre Musik, ihre Kleidung, ihr Aussehen und ihr Auftreten vom leistungsorientierten Normen- und Wertesystem der Mittelstandsgesellschaft distanzierten, den Nährboden für die antiautoritäre Protestbewegung der sechziger Jahre dar. In den USA vollzog sich die Politisierung des gegenkulturellen Protestes unter dem Einfluss des Kampfes gegen die Rassendiskriminierung und den Vietnam-Krieg lediglich früher und radikaler als in Westeuropa. In beiden Fällen waren die Träger des politischen Protestes mit den drop out-Gruppen der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre jedoch nicht mehr unbedingt identisch. Vielmehr verlagerte sich die Bewegung nun auf den Campus der Universitäten, wo sie nicht nur viel von
ihrer spielerischen Spontaneität verlor, sondern auch an politischer Bedeutung und Dynamik gewann.
In der Bundesrepublik war die Entwicklung von Rudi Dutschke und Bernd Rabehl - beide zunächst Mitglieder der «Subversiven Aktion» in Berlin, ehe sie im Januar 1965 der Berliner Sektion des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) beitraten - beispielhaft für die Veränderung des Protestes. Im Vergleich zu Dieter Kunzelmann, der nicht nur in seiner Münchner Zeit, sondern auch danach als Mitglied der Kommune I in Berlin an seinem ästhetisierten, individualistischen Politikverständnis festhielt, repräsentierten sie eine Richtung innerhalb der antiautoritären Protestbewegung, die auf die Veränderung der Gesellschaft durch politische Analyse und Massenmobilisierung abzielte. Zwar blieben sie auch weiterhin stark von den niederländischen Provos und deren Happenings als Methode zur Bloßstellung des Establishments beeinflusst. Zugleich nahmen sie jedoch Elemente traditioneller linker Ideologien auf, die sie zu einer neuen politischen Strategie verarbeiteten und mit Unterstützung der Studentenschaft - als revolutionäre «Massenbasis» anstelle des nicht zur Verfügung stehenden Proletariats - in die Wirklichkeit umzusetzen suchten. Erst mit Dutschke und Rabehl wurde der SDS zum organisatorischen und inhaltlichen Motor des Protestes.
Dabei war der SDS bis in zweite Hälfte der fünfziger Jahre hinein in erster Linie ein akademisches Trittbrett für sozialdemokratische Parteikarrieren gewesen. Auch Helmut Schmidt zählte zu seinen ehemaligen Bundesvorsitzenden. Obwohl formal unabhängig, hatte der SDS sich damit im Integrationsfeld der Sozialdemokratie befunden und umgekehrt der SPD viele Sympathien unter der Studentenschaft eingebracht. Zur Kollision war es erst 1958/59 im Vorfeld der Diskussionen um das Godesberger Programm gekommen. Danach hatte die SPD-Führung den Eindruck gewonnen, dass der SDS sich nunmehr «auf den wohl überlegten Plan einer organisatorischen Zersetzung der SPD mit dem erklärten Ziel einer Parteispaltung konzentrierte», wie es in einer Presseverlautbarung hieß. Logische Folge dieser Entwicklung war ein Beschluss des SPD-Parteivorstandes vom 6. November 1961, der die Unvereinbarkeit einer gleichzeitigen Mitgliedschaft in beiden Organisationen feststellte. Danach stand der SDS tatsächlich allein, zumal bereits im Mai 1960 mit dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) eine konkurrierende Einrichtung gegründet worden war, die das sozialdemokratische Potenzial an den Hochschulen weitgehend ausschöpfte.
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Unmittelbar nach der Trennung von der SPD begann der SDS an fast allen Universitäten damit, autonome sozialistische Arbeitskreise aufzubauen, in denen Studenten die Gelegenheit erhielten, sich systematisch die Texte des Marxismus und der Kritischen Theorie anzueignen. Anknüpfend an die sozialistischen Klassiker sollte ein neues, der aktuellen Situation angemessenes Verhältnis sozialistischer Theorie und Praxis entwickelt werden. Dabei wurde auf Distanz sowohl zu traditionalistischen KPD-Positionen als auch zur pragmatischen Haltung der SPD geachtet. Mit der Theorie des «autoritären Staates» (Max Horkheimer) und der «eindimensionalen Gesellschaft» (Herbert Marcuse) meinte man, das ideologische und begriffliche Instrumentarium gefunden zu haben, um die Entwicklung einer sich «formierenden», etatistisch integrierten spätkapitalistischen Gesellschaft zu beschreiben. Als «revolutionäre Subjekte» wurden vor allem Randgruppen der Gesellschaft, aber auch die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt benannt, während die «sozialistische Intelligenz» - also die linke Studentenschaft - sich selbst als revolutionäre Avantgarde betrachtete.
Der Berliner Politikwissenschaftler Richard Löwenthal, der in den zwanziger und dreißiger Jahren Mitglied einer sozialistischen Studentengruppe gewesen und während des Dritten Reiches nach einigen Jahren im Untergrund zur Emigration nach Großbritannien gezwungen gewesen war, sah darin einen «romantischen Rückfall» hinter die «Errungenschaften der ersten Nachkriegsgeneration — das individuelle Verantwortungsbewusstsein, die nüchterne Selbstbemühtheit, die Toleranz und den Respekt vor der Person». Mit der erneuten Anfälligkeit für geschichtsphilosophische Gesamtlösungen, so warnte Löwenthal, trete «eine neue Intoleranz auf, ein Mangel an Bereitschaft, die eigenen Thesen in freier Diskussion zu überprüfen». Damit verbunden sei zugleich «eine erneute Ablehnung der wesentlichen Institutionen des Westens, des liberalen Staates, der repräsentativen Demokratie». Positiver wurde die Entwicklung von Ulrich Lohmar eingeschätzt, wie Löwenthal ebenfalls einer der ideologischen «Vordenker» der SPD, der 1968 schrieb, die «Neue Linke» fordere «zu einer kritischen Überprüfung unserer Vorstellungen von der Industriegesellschaft, der Demokratie und der Wissenschaft heraus».
Weder die spätere Radikalisierung der Aktionen noch deren politische Implikationen waren zu dieser Zeit allerdings bereits absehbar. Auch die Rolle des SDS, der seit 1961 an den Universitäten eher ein Rand- und Schattendasein geführt hatte, lag noch weitgehend im Dunkeln. So verliefen die ersten politischen Demonstrationen im Dezember 1964 gegen den Besuch des kongolesischen Präsidenten Moise Tschombe in West-Berlin und im März 1965 gegen eine Werbewoche der Republik Südafrika durchaus diszipliniert und unspektakulär. Die universitären Proteste selbst begannen am 7. Mai 1965 mit einer Demonstration von einigen hundert Studenten an der Freien Universität Berlin, wo Rektor Hans-Joachim Lieber zuvor ein Hausverbot gegen den Publizisten Erich Kuby verhängt hatte, um dessen Teilnahme an einer Podiumsdiskussion des AStA aus Anlass des 20. Jahrestages der Niederlage des Nationalsozialismus zu verhindern. Kuby hatte nach Meinung Liebers 1958 die FU verunglimpft, als er deren Namensgebung «Freie Universität» mit der Bemerkung kritisiert hatte, die «innere antithetische Bindung an die andere, an die unfreie Universität jenseits des Brandenburger Tores» sei «mit den wissenschaftlichen und pädagogischen Aufgaben einer Universität schlechthin unvereinbar».
Zum ersten Mal wurden nun neue Demonstrationstechniken, wie «Sit-ins», «Go-ins» und das Prinzip der «begrenzten Regelverletzung», erprobt, die sich an entsprechende Vorbilder bei den Studentenunruhen im kalifornischen Berkeley seit Ende 1964 anlehnten. Doch erst als der Vietnam-Krieg, an dem sich in den USA schon seit langem die Geister schieden, Ende 1965 auch in der Bundesrepublik in das Zentrum der studentischen Proteste rückte, gewann die Bewegung an Auftrieb. So kam es am 5. Februar 1966 ungeachtet aller Solidaritätsbekundungen von offizieller und privater Seite zu einer ersten großen Demonstration gegen die amerikanische Beteiligung am Vietnam-Krieg, bei der die Teilnehmer durch einen Sitzstreik auf dem Kurfürstendamm in Berlin den Verkehr für zwanzig Minuten blockierten und Eier gegen die Fassade des Amerika-Hauses am Bahnhof Zoo schleuderten. «Beschämend! Undenkbar!», «Die Narren von West-Berlin», «... eine Schande für unser Berlin» - so oder ähnlich lauteten am folgenden Tag die Schlagzeilen der Berliner Presse. In der «Frontstadt Berlin», wo die Identifikation mit der «Schutzmacht USA» größer war als an anderen Orten, erschien die Verurteilung des amerikanischen Verhaltens in Vietnam besonders unangemessen. Irritierend wirkten nicht nur die Proteste an sich, sondern auch die Tatsache, dass sie mit einer unkritischen Glorifizierung des chinesischen und vietnamesischen Kommunismus und ihrer Führer Mao Tse-tung und Ho Tschi-minh sowie einer beinahe kultischen Verehrung Ernesto Che Guevaras als Symbolfigur des Guerillakampfes in der Dritten Welt einhergingen.
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Eine mobilisierende Funktion für den studentischen Protest hatten aber auch Forderungen nach einer Hochschulreform. Sie erhielten erheblichen Auftrieb, als der Pädagoge Georg Picht 1964 in einer viel beachteten Artikelserie vor einer «deutschen Bildungskatastrophe» warnte und damit eine republikweite Diskussion auslöste, die zu einer Sensibilisierung gegenüber den Problemen im deutschen Bildungswesen führte. Nachdem sich die Fraktionsvorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien am 21. Mai 1965 über eine Grundgesetzänderung zum Notstandsrecht geeinigt hatten und die Vorbereitung einer gemeinsamen Gesetzesinitiative in ein konkretes Stadium trat, kam mit dem Kampf gegen die Notstandsgesetze ein weiteres zentrales Thema hinzu, das mehr als drei Jahre lang - bis zur Verabschiedung der Gesetze am 30. Mai 1968 - die Aktionen der Studentenbewegung prägen sollte. Nach der Bildung der Großen Koalition in Bonn am 1. Dezember 1966 schienen zudem durch die Dezimierung der Opposition im Bundestag die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie außer Kraft gesetzt, so dass viele eine «Außerparlamentarische Opposition» (APO) für notwendig hielten, um die Regierung wenigstens von außen zu kontrollieren. Da überdies, wie allgemein bekannt war, der neue Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger der NSDAP angehört hatte, Bundespräsident Heinrich Lübke angeblich als Architekt beim Bau von Konzentrationslagern mitgewirkt hatte und schließlich die rechtsradikale Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 1966 in die Landtage von Hessen und Bayern einzog, schienen sich die Analysen der linken Studenten - insbesondere des SDS - über einen neuen deutschen «Faschismus» zu bestätigen. Die Forderungen nach einer demokratischen Hochschulreform und der Widerstand gegen den Vietnam-Krieg sowie die Notstandsgesetze verschmolzen nun mit der Kritik an der nationalsozialistischen Vergangenheit der Elterngeneration und der Auflehnung gegen ein Wiederaufleben totalitärer Bestrebungen.
Beispiele für die Parallelität der Aktionen gegen den Vietnam-Krieg und die Notstandsgesetze waren der in verschiedenen Arbeitskreisen des SDS lange vorbereitete Kongress «Vietnam - Analyse eines Exempels» im Mai 1966 in der Frankfurter Universität sowie der am 30. Oktober 1966 ebenfalls in Frankfurt abgehaltene Kongress «Notstand der Demokratie». Beim Vietnam-Kongress hielt Herbert Marcuse vor über 2000 ausgewählten Studenten, Professoren und Gewerkschaftlern aus ganz Europa das Hauptreferat. Beim Notstands-Kongress, der von der IG-Metall finanziert und vom Bundesvorsitzenden des SDS, Helmut Schauer, organisiert wurde, diskutierten in sechs Foren mehr als 5 000 Gewerkschaftler, SPD-Mitglieder, Studenten, Assistenten und Professoren über die Notstandsgesetze und die Demokratie in der Bundesrepublik. Die Politisierung, aber auch die begriffliche Präzisierung der Aktionen wurden hier entscheidend vorangetrieben. Erst jetzt wurde aus der gegenkulturellen, antiautoritären Protestbewegung der frühen sechziger Jahre eine politisch-ideologische Kraft, die unmittelbar die Entwicklung von Staat und Gesellschaft beeinflussen wollte.
Vor diesem Hintergrund verwunderte es auch nicht, dass die Mitglieder der am 1. Januar 1967 gegründeten Kommune I, wie Fritz Teufel, Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann, die mit ihren Aktionsformen der Happenings und phantastischen Verkleidungen bei gleichzeitiger Vermeidung physischer Gewalt zeitweilig erheblichen Einfluss auf den Berliner SDS gewonnen hatten, am 3. Mai 1967 wegen «falscher Unmittelbarkeit» (Dieter Kunzelmann: «Was geht mich Vietnam an - ich habe Orgasmusschwierigkeiten») und eines die Hochschularbeit des SDS unterminierenden anarchistischen Aktionismus aus dem Berliner Landesverband und dem Bundesverband des SDS ausgeschlossen wurden. Der Ulk als Mittel der Politik hatte ausgedient oder erschien zumindest nicht mehr angemessen.
Wie ernst es inzwischen tatsächlich geworden war, zeigte sich am 2. Juni 1967, als während einer Demonstration gegen den Besuch des Schah von Persien vor der Deutschen Oper in Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Danach eskalierten die Proteste in der ganzen Bundesrepublik auf eine vorher nicht gekannte Weise. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Heinrich Albertz, und Polizeichef Duensing wurden zum Rücktritt gezwungen. Rudi Dutschke rief zu einer «Anti-Springer-Kampagne» auf, weil die Presse des Axel Springer Verlages, zu dem unter anderem die Bild-Zeitung, die BZ und die Berliner Morgenpost gehörten, seiner Meinung nach entscheidend zur Aufheizung des politischen Klimas in der Stadt beigetragen hatte. Und in der FU wurde am 1. November 1967 die «Kritische Universität» gegründet, um eine «Gegenmacht» zum herrschenden Wissenschaftsbetrieb aufzubauen. Die dadurch erzeugte Atmosphäre ist heute kaum noch nachvollziehbar. Tatsächlich dachten beide Seiten - die Studenten auf der einen, die Berliner Öffentlichkeit, der Senat und die Presse auf der anderen - gar nicht daran, nachzugeben oder auch nur zur Mäßigung zu mahnen. So fand am 17./18. Februar 1968 ein weiterer «Internationaler Vietnam-Kongress» statt, bei dessen Abschlussdemonstration etwa 10 000 Teilnehmer unter Mao-, Ho Tschi-minh- und Che Guevara-Plakaten durch die Berliner Innenstadt marschierten. Nur drei Tage später antwortete der Senat mit einer Gegenkundgebung unter dem Motto «Berlin darf nicht Saigon werden». Sie richtete sich nicht nur sachlich gegen die Kritik an der amerikanischen Vietnam-Politik, sondern ließ in Verbindung mit der Presseberichterstattung die Wogen der Erregung so sehr hochgehen, dass der Gelegenheitsarbeiter Josef Bachmann schließlich am Gründonnerstag, den 11. April 1968, zur Waffe griff und Rudi Dutschke mitten auf dem Kurfürstendamm niederschoss.
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Danach erlebte die Bundesrepublik die bis dahin schwersten Straßenschlachten ihrer Geschichte. Nach Angaben von Bundesinnenminister Ernst Benda fanden allein in den fünf Tagen von Gründonnerstag bis Ostermontag in 27 Städten Demonstrationen statt, die in etwa einem Fünftel der Fälle mit Ausschreitungen, Gewaltakten und «schwerwiegenden Rechtsverletzungen» verbunden gewesen seien. Die «Aktionen mit Gewaltanwendung», so Benda, hätten sich im Wesentlichen gegen «Einrichtungen des Verlagshauses Springer» gerichtet. Bei den Demonstrationen seien jeweils zwischen 5 000 und 18 000 Personen beteiligt gewesen. An Demonstrationen mit Ausschreitungen hätten sich jeweils 4 000 bis 11000 Personen beteiligt. Gegen 827 Beschuldigte, zumeist Studenten, aber auch Schüler, Angestellte und Arbeiter, wurden polizeiliche Ermittlungsverfahren eingeleitet. Bei den Unruhen in München kamen wiederum zwei Menschen ums Leben.
Die erhebliche Radikalisierung der Proteste, die sich in diesen Zahlen widerspiegelt, zielte vor allem gegen die Springer-Presse und die Große Koalition. Aber auch Vorlesungsstörungen missliebiger Professoren, die mehr und mehr zur Zielscheibe radikaler Kritik wurden, waren nun an der Tagesordnung. Von Seiten der studentischen Linken wurde das Attentat auf Dutschke nicht als Tat eines verwirrten Einzelgängers, sondern als Ergebnis manipulativer Beeinflussung vor allem durch die Berichterstattung in den Medien des Springer-Konzerns gesehen. Dutschke sei, so hieß es vielfach, nach dem 2. Juni 1967 durch die Bild-Zeitung und andere Boulevardblätter zum «Volksfeind Nr. 1» gestempelt worden, so dass es «nur geringer Anstöße durch die staatlichen Autoritäten» bedurft hätte, «die produzierte Volkswut gegen Einzelne sich entladen zu lassen». Der «Bild-Leser Josef Bachmann» habe sich deshalb als Vollstrecker eines Volkswillens gesehen, weil er mit Recht habe hoffen können, «dass ihn die Ermordung des verhassten Kommunisten Dutschke beliebt und hoffähig machen würde». Auch von Seiten des SDS wurde Gewaltanwendung nun offen legitimiert, wobei kaum noch - wie in der Anfangsphase der Protestbewegung - zwischen «Gewalt gegen Sachen» und «Gewalt gegen Personen» unterschieden wurde.
In der Rückschau ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass blinder Aktionismus wenig Raum für eine nüchterne Analyse ließ. Die «revolutionäre Bewegung», die sich nicht nur von der angeblich manipulierten Bevölkerung missverstanden fühlte, sondern in ihrem Drang zur revolutionären Tat auch selbst immer mehr die Fähigkeit zu reflektierender Betrachtung verlor, verfing sich nun gänzlich in den selbst gelegten Schlingen einer Veränderungserwartung, für die es weder eine gesellschaftliche Grundlage noch eine politische oder ökonomische Notwendigkeit gab. Die Bundesrepublik von 1968 war - trotz Großer Koalition, Verabschiedung der Notstandsgesetze und genereller Unterstützung für die Außenpolitik der USA - weder mit dem Russland von 1917 noch mit dem Deutschen Reich nach 1933 vergleichbar. Richard Löwenthal hatte daher sicher Recht, wenn er der studentischen Protestbewegung in dieser Phase die Fähigkeit zu rationaler Analyse, Toleranz und Selbstkritik bestritt. Tatsächlich fand er damit viel Unterstützung bei nachdenklichen Kollegen, die entweder zu besonnenen Reformen aufriefen oder - wie Jürgen Habermas, der sich selbst zur «Neuen Linken» zählte - sogar umgekehrt den Vorwurf eines «linken Faschismus» erhoben.
Die Irrealität der Bewegung zeigte sich nicht zuletzt am Beispiel des Kampfes gegen die Notstandsgesetze. Abgesehen von der instrumentellen Nützlichkeit dieser Kampagne zur Verbreiterung der Massenbasis, war die politische Argumentation in dieser Frage kaum nachvollziehbar. Weder bedeuteten die Notstandsgesetze das Ende der Demokratie in der Bundesrepublik, noch war ihr Missbrauch von der Großen Koalition, die sie verabschiedete, in irgendeiner Form beabsichtigt. Dennoch wurden gerade die Notstandsgesetze zum innenpolitischen Kristallisationspunkt des Protestes, der auch den Vorwürfen gegen Bundeskanzler Kiesinger wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit neue Nahrung gab. Der Verdacht keimte auf, dass der Kanzler, der bereits 1933 der NSDAP beigetreten war, die Gelegenheit nutzen könne, die Demokratie zu beseitigen. Günter Grass hatte deshalb vorausschauend bereits am Tage vor der Wahl Kiesingers zum Regierungschef am 30. November 1966 in einem offenen Brief «noch einmal, in letzter Minute, empörten Einspruch» erhoben. Das Amt des Bundeskanzlers dürfe «niemals von einem Mann wahrgenommen werden..., der schon einmal wider alle Vernunft handelte und dem Verbrechen diente». Doch Kiesinger war mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD zum Bundeskanzler gewählt worden, und die Große Koalition hatte mit ihrer - in der Sache durchaus erfolgreichen - Arbeit begonnen. Bei den Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetze schienen sich nun jedoch die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.
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Ihre überhöhte Bedeutung für die Protestbewegung gewannen diese Gesetze allerdings erst dadurch, dass sie ausgerechnet in den Wochen, in denen die politische Atmosphäre durch das Dutschke-Attentat und die Osterunruhen ohnehin stark aufgeheizt war, zur Beratung auf dem Terminplan des Bundestages standen. So fanden der vom Kuratorium «Notstand der Demokratie» organisierte Sternmarsch auf Bonn am 11. Mai 1968, der Aufruf zu einem politischen Generalstreik in den Betrieben und Universitäten am 27. Mai sowie eine Vielzahl lokaler Aktionen, wie Theaterbesetzungen, in den Tagen vor der Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai eine sehr viel größere Aufmerksamkeit, als es unter normalen Umständen wohl der Fall gewesen wäre. Die «treibhausartige Mobilisierung der kritischen Studentenschaft und der außeruniversitären Opposition» auf dieses Thema hin konnte das Inkrafttreten der Gesetze indessen nicht verhindern und erwies sich deshalb letztlich als kontraproduktiv, weil die totale Fixierung auf einen Gegenstand, der diese Aufmerksamkeit von der Sache her nicht verdiente, zur Frustration der Demonstranten führen musste. Tatsächlich bedeutete das Scheitern des Kampfes gegen die Notstandsgesetze den Anfang vom Ende der Protestbewegung. Hier bewahrheitete sich, was Rudi Dutschke seit langem behauptet hatte: Wer in der Politik etwas durchsetzen wollte, durfte nicht nur - als außerparlamentarische Opposition - in der Kritik verharren, sondern musste sich an den Entscheidungsprozessen selbst beteiligen und den «Marsch durch die Institutionen» antreten.
Zur Ernüchterung der Protestbewegung trugen jedoch auch Entwicklungen außerhalb Deutschlands bei. So war das Auflodern der Proteste im «Pariser Mai» nur von kurzer Dauer. Der «Prager Frühling» wurde durch den Einmarsch von Truppen aus fünf Warschauer-Pakt-Staaten am 21. August 1968 jäh beendet, wobei die demonstrative Parteinahme der im September 1968 neu gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) für die gewaltsame Zerschlagung des tschechoslowakischen Reformmodells den ideologischen Minimalkonsens der linken Gruppierungen in der Bundesrepublik endgültig zerbrechen ließ. Und der mit dem Versprechen errungene Sieg Richard M. Nixons bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November 1968, die USA aus dem Vietnam-Krieg zurückzuziehen, nahm sogar diesem Thema seine Brisanz, obwohl der Krieg in Indochina selbst noch bis 1975 andauerte. Die weit überwiegende Zahl der Studenten kehrte nun in die Hörsäle, Seminarräume und Bibliotheken zurück, während sich der SDS - nicht zuletzt in der Gewaltfrage, etwa bei Springer-Blockaden - zunehmend radikalisierte und immer weiter von der gesellschaftlichen Realität entfernte.
Auf der Osterkundgebung der «Kampagne für Demokratie und Abrüstung» 1969 in Frankfurt kam es zum Eklat, als Vertreter der Kampagne dem SDS «blinden Aktionismus», «masochistische Prügeleien mit der Polizei» und einen unberechtigten «Alleinvertretungsanspruch für politischen Widerstand» vorwarfen. Der SDS seinerseits rief zu «direkten Aktionen» gegen die Politik und die Institutionen «repressiver Macht» auf und plädierte dafür, den Kapitalismus in Gegenmodellen «direkter Demokratie» physisch anzugreifen. Nach dem Muster der Guerilla sollte eine Politik der «befreiten Gebiete» Inseln rätedemokratischer Gegenmacht schaffen, um von der Phase der «Doppelherrschaft» zur Abschaffung jeder Herrschaft überzuleiten. Da das Bewusstsein für eine solche Revolution bei der Bevölkerung noch nicht vorhanden war, sollten Provokationen den «latenten Faschismus» in «manifesten Faschismus» umschlagen lassen, um ihn so für die Massen durchschaubar zu machen und damit die Manipulation des spätkapitalistischen Systems zu beenden. Allerdings trugen solche Forderungen nur zur weiteren Isolierung des SDS innerhalb der Studentenschaft und zum Abgleiten von Teilen der Protestbewegung in den konspirativen Terrorismus bei. Erste linksterroristische Aktionen, wie Bombenanschläge auf Einrichtungen der US-Armee, hatte es bereits 1968 gegeben. Diese Aktivitäten nahmen nun - nicht zuletzt als Zeichen politischer Frustration und Resignation - weiter zu.

Quelle: Manfred Görtemaker
Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
ISBN: 3893314563
C.H. Beck Verlag, München 2002, 24,90 Euro

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