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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Mauerfall
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Erinnerungen
Nicht nur hierzulande, sondern in aller Welt zählt Willy Brandt noch heute zu den >großen Leitfiguren< (Richard von Weizsäcker). In seinen Memoiren zeichnet er seinen persönlichen und politischen Werdegang nach, in dessen Verlauf er zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler und durch den Spionagefall Guillaume zum Rücktritt gezwungen wurde. Ein Zeitzeugnis ersten Ranges, das die bewegte Geschichte des 20. Jahrhunderts widerspiegelt.

"Analytisch scharf in der Sache, glaubwürdig, sensibel und human - ein großer Beitrag zu den Zeitverhältnissen." (Die Zeit)

Autor: Willy Brandt
ISBN: 3-548-36497-7

Buchauszug
Große Worte, kleine Schritte

Im August 1961 wurde die Spaltung Berlins in Beton gegossen - gegen das Lebensgesetz einer über Generationen gewachsenen Stadt und, wie ich überzeugt war, gegen den Strom der Geschichte. 25 Jahre später erklärte Ronald Reagan in Washington, er hätte sie, wäre er zu jener Zeit Präsident gewesen, abreißen lassen. Als mich am 13. August 1986 ein amerikanischer Journalist in Berlin hiernach befragte, lehnte ich jeden Kommentar ab. Weshalb ich es nicht für angemessen hielt, mich aus diesem Anlaß in Berlin in eine Polemik mit einem Präsidenten der USA zu begeben? Ich hätte sonst fragen müssen, welche militärischen Maßnahmen er denn hätte ergreifen wollen. Einmarschieren? Mit welchem Ziel und um welchen Preis? Mit starken Worten war auch im nachhinein nichts zu gewinnen. Gewiß, Reagan hat Gorbatschow öffentlich aufgefordert, die Mauer verschwinden zu lassen. Aber in den Verhandlungen mit seinem russischen Partner hat er andere Schwerpunkte gesetzt und erst recht nicht die Teilung Deutschlands - 1945 in Jalta festgelegt - in Frage gestellt. Ich habe mich deswegen nicht mit ihm angelegt.
Berlin hatte bei Kriegsende einen Viermächtestatus erhalten und sollte durch eine gemeinsame Kommandantur der Siegermächte regiert werden. Aber die Rechte und Pflichten der Vier Mächte waren nicht sauber ausgehandelt worden — in einer Zeit, da man sich über die künftigen Rechte der Deutschen begreiflicherweise nicht viel Gedanken machte. Jeder Kommandant sollte, im Prinzip, über seinen Sektor verfügen können, wie er wollte oder wie ihn seine Regierung wollen ließ. Aus der gemeinsamen Kommandantur haben sich die Sowjets 1948 zurückgezogen und im gleichen Jahr die gewählten gesamtstädtischen Vertretungen - Stadtverordnetenversammlung und Magistrat - aus dem alten Rathaus im Ostsektor hinausjagen lassen; in ihrem Sektor bekamen die ihnen genehmen Leute das Sagen. Später ist der sogenannte Viermächtestatus - von dem schon 1948 kaum etwas übrig war - ins Feld geführt worden, um politisches Nichtstun zu bemänteln. In Bonn lagen Statuskult und Spaltungspflege besonders nahe beieinander.

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Man hat mich oft gefragt, wann ich, der Bürgermeister, erfahren hätte, daß die Mauer gebaut werden würde. Und was ich dagegen unternommen hätte. Die Antwort lautet: Ich habe befürchtet, daß der Zugang aus der DDR nach Ostberlin erschwert und die Übergänge von dort nach West-Berlin weitgehend gesperrt würden. Die Tendenz einer solchen Entwicklung war abzuschätzen, nicht Zeit und Form des Geschehens. Sonst wäre ich nicht am Samstag, dem 12. August, noch in Nürnberg gewesen, um mit einer großen Kundgebung den Bundestagswahlkampf zu eröffnen.
Auf dem Weg nach Nürnberg hatte ich am Freitag in Bonn Station gemacht und in einer ernsten Unterredung mit dem Außenminister ein letztes Mal - vergeblich - eine Ausweitung der Thematik auf Gesamtberlin angeregt. Auf dem Nürnberger Marktplatz versuchte ich die Zuspitzung der Lage zu erklären: Die Furcht der Landsleute in der Zone, sie würden abgeschnitten, allein gelassen und eingesperrt, habe die Flüchtlingsziffern so dramatisch hochschnellen lassen. Daß Sowjets und deutsche Kommunisten alles daransetzen würden, die Massenflucht nach dem Westen zu unterbinden, konnte nicht überraschen. Daß man Ostberlin einmauern, die durch die Stadt verlaufende Trennungslinie versteinern würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Vergessen oder verdrängt war ein Plan aus dem Jahr 1959; damals ging die Kunde, der Ostberliner Bürgermeister Ebert, ein Sohn des ersten Reichspräsidenten, habe für eine »chinesische Mauer« plädiert, sei aber am sowjetischen Veto gescheitert. Das Projekt, von dem man sagte, es sei unter maßgeblicher Federführung Erich Honeckers zustande gekommen, verschwand in ebenjener Schublade, aus der es 1961 wieder hervorgeholt wurde.
Meine Befürchtungen behielt ich nicht für mich. Ich war bemüht, sie den Alliierten und der Bundesregierung, behutsam auch der Öffentlichkeit nahezubringen. Zum Bundesaußenminister Heinrich von Brentano sprach ich an jenem 11. August, an dem in der Volkskammer Maßnahmen gegen »Menschenhändler, Abwerber und Saboteure« angekündigt wurden, eindringlich von der Gefahr rigoroser Absperrungen: Vermutlich würden die DDR-Behörden - aus purem Selbsterhaltungstrieb - die vorgesetzten sowjetischen Stellen bedrängen, daß sie drastische Maßnahmen absegneten. Zu diesem Zeitpunkt hatte, was ich nicht ahnte, die Sowjetunion Ulbricht längst grünes Licht zur völligen Abschirmung gegeben; dies war von der Sowjetunion und den anderen Ländern des Warschauer Paktes auf einer Ostblock-Konferenz - 3. bis 5. August in Moskau - signalisiert worden.
Später erst erfuhr ich, was vorausgegangen war: Mitte März 1961 forderte Ulbricht vor dem ZK-Plenum seiner Partei strengste Maßnahmen und teilte mit, daß er sich direkt an den Kreml-Chef wenden werde. Was ich wußte: Am 17. Februar hatte der sowjetische Botschafter in Bonn dem Bundeskanzler zwei Schriftstücke übergeben, die West-Berlin und den angedrohten Friedensvertrag betrafen. Wenn der Vertrag mit der DDR nicht hingenommen und das Besatzungsregime in West-Berlin nicht liquidiert werde, müsse man »mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen« rechnen. Die Amerikaner werteten diese Drohung durchaus richtig; seit dem Ultimatum von 1958 war das Feuer der Berlin-Krise nie richtig erloschen; es hatte - 1959/60 - vor sich hin geflackert und war nun neu entflammt worden.
Ende März tagte der Politische Beraterausschuß des Warschauer Pakts, dem Ulbricht darlegte, warum verstärkte Grenzkontrollen und Stacheldrahtsperren nicht ausreichten, sondern Betonmauer und Palisaden nunmehr notwendig seien. Keiner war richtig dafür, keiner richtig dagegen, Chruschtschow hielt sich zurück. Immerhin fühlte sich der SED-Chef daraufhin so sicher, daß er nach seiner Rückkehr Erich Honecker, verantwortlich für nationale Sicherheit, beauftragte, für Material und Arbeitskräfte zu sorgen - bei Geheimhaltung und allergrößter Vorsicht. Am 15. Juni tönte Ulbricht auf einer Pressekonferenz: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.«
Es wurde mir -Jahre später - zugetragen, daß Chruschtschow auf jener Konferenz nur Stacheldrahtsperren erlaubt habe und eine Mauer erst gebaut werden sollte, wenn die westlichen Reaktionen getestet wären. Tatsächlich wurde mit dem Bau einer Mauer im engeren Sinn erst am 16. August begonnen; am 13. handelte es sich noch um einen mit Betonpfeilern abgestützten Stacheldrahtverhau, der den Ostsektor von West-Berlin abriegelte.
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Wir waren schrecklich schlecht vorbereitet. Als es passiert war, haben wir zunächst kaum Besseres gewußt, als zu tönen: »Die Mauer muß wieder weg.« Gegenmaßnahmen, die etwas hätten bewirken können, waren auf Seiten der Westmächte nicht gefragt. Es drohte eine tiefe Vertrauenskrise. Denn was für die Berliner ein Tag des Entsetzens war, sollte für die westlichen Regierungen objektiv zu einem Datum der Erleichterung werden: Ihre Rechte, auf West-Berlin bezogen, blieben unangetastet, die befürchtete Kriegsgefahr war abgewendet.
Warum nicht ungeschminkt zugeben: Mit vielen meiner Mitbürger war ich enttäuscht, daß »der Westen« sich als nicht willens oder fähig erwies, es jedenfalls nicht vermocht hatte, gestützt auf den vielzitierten Viermächtestatus Initiativen abzuleiten, die Deutschland und Europa das Monstrum jener »Mauer der Schande« erspart hätten. Es blieb damals wenig Zeit und Lust, sich in die Interessenlage der östlichen Seite hineinzuversetzen und Chruschtschows Wort von der Mauer als einer Notlösung - einer Feuerwehraktion zur Rettung der DDR - einzuschätzen. Nikita Chruschtschow fragte Botschafter Kroll im Herbst 1961: Was er denn habe tun sollen, bei so vielen Flüchtlingen? Der deutsche Botschafter hielt wörtlich fest: »Ich weiß, die Mauer ist eine häßliche Sache. Sie wird auch eines Tages wieder verschwinden [...] aber erst dann, wenn die Gründe für ihre Errichtung gefallen sind.«
Erst im nachhinein ist einer größeren, wenn auch nicht allzu großen Zahl von Deutschen klargeworden, daß man von den Amerikanern, den Westmächten überhaupt nicht mehr erwarten konnte, als sie - über die wacklig gebliebenen Viermächterechte hinaus - versprochen hatten. Das waren die drei essentials, die sich der NATO-Rat auf seiner Osloer Frühjahrstagung 1961 zu eigen gemacht hatte: Anwesenheit, Zugang, Lebensfähigkeit. Von Berlin als gesamtstädtischem Gemeinwesen war darin nicht die Rede, und John F. Kennedy hat dann auch, als er im Juni 1961 mit dem ersten Mann der Sowjetunion in Wien zusammentraf, über Ostberlin nicht gesprochen. Die Beschränkung auf West-Berlin war die eigentliche westliche »Konzession«. Als Kennedy sich in jenem Krisensommer, genau am 25. Juli 1961, in einer Rede an die amerikanische und internationale Öffentlichkeit wandte, wurde in Moskau der zutreffende Schluß gezogen, daß seine Garantie an der Sektorengrenze ende. Umgekehrt befand der Amerikaner, nach dem Zeugnis von Mitarbeitern, Chruschtschow habe »nachgegeben«. Warum hätte er dem Bau der Mauer zustimmen sollen, wäre es die Absicht gewesen, ganz Berlin zu besetzen? Das Berlin-Ultimatum und die Drohung mit einem separaten Friedensvertrag hatte die sowjetische Seite schon im April 1961, vor dem Wiener Gipfel, erneuert; hernach war auf beiden Seiten vom möglichen Abgleiten in einen Nuklearkrieg die Rede. Der Kennedy-Vertraute Arthur Schlesinger berichtet: »Und er dachte während dieses Sommers an kaum etwas anderes.«
Der amerikanische Präsident hatte im Wiener Abschlußgespräch gesagt: Es sei Sache seines Gegenübers, was hinsichtlich der DDR geschehe. Die USA könnten und wollten sich nicht in Entscheidungen einmischen, die die Sowjetunion »in ihrer Interessensphäre« treffe. Senator Fulbright sprach in einem Fernsehinterview Ende Juli aus, was Kennedy dachte: Er verstehe nicht, weshalb die DDR-Behörden nicht dichtmachten; sie hätten alles Recht dazu. Ein Satz, den er aufgrund des Pressewirbels zurückzog und den er doch nicht ungesagt machen konnte.

Es stellte sich heraus, daß die Alliierten einer falschen Krise entgegengezittert hatten. Was für uns in Berlin ein grausamer Einschnitt war und das eigene Land beschwerte, empfanden andere als Erleichterung, jedenfalls als das kleinere Übel. Für Freizügigkeit im geteilten Deutschland waren weder die westeuropäischen Mächte noch die Amerikaner Verpflichtungen eingegangen. Für das Schicksal der tausendfach auseinandergerissenen Familien fühlten sie sich nicht mitverantwortlich, und ein gewisses Verständnis für »die Russen« war manchem westlichen Entscheidungsträger auch nicht fremd. Einen so honorigen, einflußreichen und welterfahrenen Mann wie den erwähnten Senator William Fulbright hörte man nun sagen, die Russen gingen zwar brutal vor, doch sei es verständlich, daß sie in ihrem deutschen Herrschaftsbereich für Ordnung sorgten.

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Von Gegenmaßnahmen wurde geredet. Aber gegen was hätten sie bei der gegebenen Macht- und Interessenlage gerichtet sein sollen? Außer dagegen, daß die sowjetische Seite der DDR Befugnisse übertrug, die sie aufgrund des Viermächtestatus selbst wahrzunehmen hatte? Und was sollten daraus für Folgerungen gezogen werden? Die Reaktionen auf den Mauerbau waren eine peinliche Mischung aus ohnmächtiger Wut und impotenter Protestiererei. Eine gewisse Bedeutung hatte jener Blitzbesuch von Vizepräsident Lyndon B.Johnson am Wochenende nach dem 13. August. Der Texaner stellte die West-Stadt für anderthalb Tage auf den Kopf und stabilisierte die Stimmung. Die Amerikaner nutzten die Gelegenheit, sich und uns zu überzeugen, daß eine zusätzliche militärische Einheit ungehindert über die Autobahn Berlin erreichen konnte. In Johnsons Begleitung waren der Ostexperte Botschafter Charles Bohlen und der ausgewiesene Berlin-Freund Lucius D. Clay; er blieb bis zum Frühjahr 1962 in der Stadt - ein Sonderbeauftragter des Präsidenten. Die Hauptbotschaft, die Charles Bohlen mir zu übermitteln hatte: Wenn ich etwas zu kritisieren hätte, möge ich den Präsidenten anrufen, statt ihm Briefe zu schreiben.
Was hatte ich vorgeschlagen? Ich fand, man solle es bei den drei essentials nicht belassen. Uns konnte die Garantie für alliierte Truppen, deren Anwesenheit und Zugang sowie für die »Lebensfähigkeit« der Stadt schon deshalb nicht ausreichen, weil in der Schwebe blieb, ob es ein Recht auf freien Zugang auch für die Deutschen gebe. Und ob klar war, daß die Lebensfähigkeit West-Berlins an die Zugehörigkeit zum Rechts- und Wirtschaftsgefüge der Bundesrepublik gebunden sei. Im übrigen verstand jeder, der Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, wie die essentials ausgelegt wurden: Die sowjetische Seite konnte mit Ostberlin machen, was sie wollte, und sie konnte ihre Rechte an die DDR-Führung delegieren. Ebendies geschah, und es wurde auch in Bonn geradezu abgesegnet. Als Adenauer am 16. August — zur gleichen Stunde, da ich die Berliner zu einer großen Protestkundgebung vor dem Rathaus versammelte - Botschafter Smirnow empfing, ließ er verlautbaren: Man stimme darin überein, »das aktuelle Streitobjekt nicht auszuweiten«. Der Botschafter hatte ausgerichtet, gegen die Bundesrepublik seien
die sowjetischen Maßnahmen nicht gerichtet, und der Kanzler erwiderte, die Bundesregierung werde keine Schritte unternehmen, welche die Beziehungen zur Sowjetunion erschweren und die internationale Lage verschlechtern könnten.
Meine Ratschläge an die Alliierten und an die Bundesregierung hatten vor der Mauer immer wieder darauf gezielt, das Berlin-Thema auszuweiten und nach Möglichkeit zu verändern: Warum nicht über die Wiedervereinigung ganz Berlins verhandeln? Warum nicht den sowjetischen Vorschlag einer Friedenskonferenz über Deutschland aufnehmen? Warum nicht, falls das Thema eingeengt werden müßte, die West-Berliner über ihre enge Verbindung mit der Bundesrepublik abstimmen lassen? Vom Thema des ganzen Berlin wollte niemand etwas wissen, es paßte nicht in die Gewohnheiten; die Denkbahnen waren zu eingefahren, als daß sie binnen kurzem hätten verlassen werden können. Vermutlich wäre man auch im Osten aufgelaufen. Immerhin deuteten Zwischenträger ein vorsichtiges sowjetisches Interesse an. Die Variante einer West-Berliner Volksabstimmung, die von Adenauer mit den Amerikanern erörtert wurde, hatte einen gefährlichen Haken: Der Bundeskanzler wollte darüber votieren lassen, ob die (West-)Berliner ihre Schutz- (und, jedenfalls formal, Okkupations-)macht behalten wollten. Hierum durfte es meiner Meinung nach schon aus Gründen der Kleiderordnung nicht gehen. Das Thema mußte die Zugehörigkeit zum Bund sein.
Die Bonner Ängste - und die der alliierten Statusverwalter – vor den Vereinten Nationen habe ich nie begreifen können. Was ich nach dem Mauerbau - am 18. August - im Bundestag sagte, hatte auch vorher gegolten: »Den Weg vor das Weltforum kann man sich nicht aufheben für den Fall, daß eine Welt zu brennen beginnt.« Auch sonst ist nichts, was das Thema hätte ausweiten können, ernsthaft aufgegriffen worden. Im politischen Nichtstun und beim Abspielen alter juristischer Platten hatte man sich auf eine Krise vorbereitet, die ausblieb, und nicht gewußt, mit der fertig zu werden, die heraufzog.
Die Krise, die nicht kam, war die um einen separaten Friedensvertrag und um die Anwesenheit westalliierter Garnisonen. Diese Krise hätte die Kriegsgefahr heraufbeschworen. Was die alliierten Nachrichtendienste wußten, habe ich nicht ausmachen können. Von den entsprechenden deutschen Einrichtungen habe ich weder unmittelbar noch nachträglich hilfreiche Hinweise erhalten. Es kommt mir immer noch wie ein böser Witz vor, daß am Morgen des 14. August auf dem Tisch von Heinrich Albertz, meinem Chef der Senatskanzlei, eine Mitteilung des BND vom 11. lag: Besonderes liege nicht vor...
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Der Kniefall von Warschau

Schon 1970, doch auch später bin ich gefragt worden, warum ich nicht den Vertrag, der mit dem unsäglich mißhandelten Polen zu schließen war, dem mit der Sowjetunion vorgezogen hätte. Dies war eine rein akademische Frage, auch im Verständnis der polnischen Führung. Es gab keine Wahl, der Schlüssel zur Normalisierung lag in Moskau. Und da war ja nicht nur die Macht zu Hause, sondern ein Volk, das ebenfalls schrecklich gelitten hatte.
Aber ich gebe zu: Die Polen, im Volk wie in der Führung, hätten es vorgezogen, wenn unsere Erklärung zur Oder-Neiße-Grenze zuerst in Warschau zu Protokoll gegeben worden wäre; als »Geschenk der Russen« erschien sie nur halb soviel wert. Die Führung wußte allerdings, was die Öffentlichkeit so noch nicht wissen konnte: Eine von mir geführte Regierung werde bereit sein, die neue polnische Westgrenze vertraglich hinzunehmen. Ich hatte es während des Wahlkampfes 1969 signalisiert, also bevor klar war, ob ich die neue Regierung würde bilden können. 1970 machte ich mir den polnischen Vorschlag zu eigen, im Warschauer Vertrag die Feststellung zur Grenze an die erste Stelle zu setzen und den Gewaltverzicht folgen zu lassen.
Als ich am Nachmittag des 7. Dezember 1970, im Anschluß an die Vertragsunterzeichnung, mit Wladyslaw Gomulka sprach, tauchte das Problem der Reihenfolge wieder auf. Wohlmeinende polnische Journalisten hatten den Wunsch lanciert, daß wir im Ratifizierungsverfahren den Warschauer Vertrag dem Moskauer vorzögen. Gomulka: Bitte nicht die Realität aus dem Auge verlieren. Jeder Versuch, Polen aus seinem Bündnis zu lösen oder gar einen Keil zwischen sein Land und den großen östlichen Nachbarn zu treiben, müsse scheitern. Im übrigen sei der Vertrag von Moskau früher abgeschlossen worden, beide sollten gleichzeitig oder kurz nacheinander ratifiziert werden.
Gewiß wollten die Polen nicht als Anhängsel ihrer Führungsmacht behandelt werden. Und ebenso gewiß mißbehagte ihnen der Gedanke, Russen und Deutsche könnten Textübungen über eine Frage abhalten, die sie als existentiell empfanden. Die Bitternis, die ihr Verhältnis zur Sowjetunion prägte, verbargen die Polen nicht; daß Stalin ihr Offizierskorps hatte vernichten lassen, daß die Rote Armee 1944 an der Weichsel stehen geblieben war und zugesehen hatte, wie Warschau verblutete, daß die eigenen Ostgebiete für verloren gelten mußten, wurde nirgends ausgesprochen und doch mancherorts angedeutet. Man war auch in der Folge sehr darauf aus, nicht von den Russen abgehängt zu werden. Als ich mich im September 1971 mit Breschnew auf der Krim traf, erreichte mich die Bitte, auf dem Rückflug in Warschau Station zu machen. Ich meinte, darauf wegen anderer Verpflichtungen nicht eingehen zu können. Später fragte ich mich, nicht nur auf diesen Fall bezogen, ob man sich nicht zu sehr zum Sklaven seines Terminplans gemacht habe.
Josef Cyrankiewicz, Überlebender von Mauthausen, Exponent des sozialdemokratischen Teils der PVAP, der kommunistischen Einheitspartei, und Ministerpräsident, meinte zu Beginn der Warschauer Gespräche: Unsere beiden Regierungen sollten sich auf eine Art psychoanalytische Kur einstellen und erst einmal zutage fördern, was nicht in Ordnung sei; das therapeutische Gespräch folge. Vielseitige Zusammenarbeit könne helfen, den Rest besorge die Zeit, die heilsam sei. Gomulka, am Vorabend der Vertragsunterzeichnung: Für den Prozeß der Annäherung sollten wir mindestens ein Jahrzehnt ins Auge fassen. Eine Perspektive, die immer noch zu kurz gegriffen war.
Der erste Mann der Partei und de facto des Staates scheiterte noch
in jenem Dezember an Protesten gegen die unzulängliche Versorgung. Demonstrierende Arbeiter, nicht zuletzt in Danzig, zwangen ihn zum Rücktritt. Er war eine im Widerstand gehärtete Persönlichkeit; in den frühen fünfziger Jahren hatte man ihn als »Titoist« eingesperrt, 1956 war er, gegen den Willen Chruschtschows, zum Parteichef aufgestiegen. Das Ritual der langen Reden, die die Diskussion ersetzten, beherrschte er wie alle kommunistischen Führer. »Unter vier Augen« - mit Einschluß der Dolmetscher: acht - trug er zwei Stunden vor; ich brauchte schon aus Prestigegründen mindestens eine zur Erwiderung, und dann ging es weiter im Programm.

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Der Warschauer Vertrag klärte »die Grundlagen der Normalisierung der Beziehungen« und zeigte an, auf wie dünnem Eis wir uns bewegten. Für uns war gleichwohl die Feststellung wichtig, daß - wie bei den anderen Ostverträgen - weder die Gültigkeit früher geschlossener Verträge berührt noch internationale Vereinbarungen in Frage gestellt würden. Der polnische Regierungschef versäumte nicht zu erwähnen: Seine Seite sei sich bewußt, daß im Namen der Bundesrepublik ein Mann seine Unterschrift leiste, »der schon am Beginn der Machtübernahme durch den Faschismus das grenzenlose Unglück begriff, das dadurch für das deutsche Volk, für die Völker Europas, für den Frieden in der Welt entstehen würde«. In meiner Antwort hieß es: Mir sei bewußt, daß nicht durch ein noch so wichtiges Papier brutal aufgerissene Gräben zugeschüttet würden. Verständigung und gar Versöhnung könnten nicht durch Regierungen verfügt werden, sondern müßten in den Herzen der Menschen auf beiden Seiten heranreifen. Ich berichtete meinen Partnern von Gesprächen mit General de Gaulle, in denen von Deutschland und Polen die Rede war. Er und ich seien uns einig gewesen, daß die Völker Europas ihre Identität bewahren müßten und gerade dadurch dem Kontinent eine große Perspektive eröffnen würden. Ich wisse also, »daß es nicht mehr isolierte, sondern nur noch europäische Antworten gibt. Auch das hat mich hierher geführt.« Und, in meiner Rede zur Vertragsunterzeichnung: »Meine Regierung nimmt die Ergebnisse der Geschichte an; Gewissen und Einsicht führen uns zu Schlußfolgerungen, ohne die wir nicht hierher gekommen wären.« Doch werde niemand von mir erwarten, »daß ich in politischer, rechtlicher und moralischer Hinsicht mehr übernehme, als es der Einsicht und Überzeugung entspricht.« Vor allem müßten die Grenzen »weniger trennen, weniger schmerzen«.
Es war eine ungewöhnliche Last, die ich auf meinen Weg nach Warschau mitnahm. Nirgends hatte das Volk, hatten die Menschen so gelitten wie in Polen. Die maschinelle Vernichtung der polnischen Judenheit stellte eine Steigerung der Mordlust dar, die niemand für möglich gehalten hatte. Wer nennt die Juden, auch aus anderen Teilen Europas, die allein in Auschwitz vernichtet worden sind? Auf dem Weg nach Warschau lag die Erinnerung an sechs Millionen Todesopfer. Lag die Erinnerung an den Todeskampf des Warschauer Ghettos, den ich von meiner Stockholmer Warte verfolgt hatte und von dem die gegen Hitler kriegführenden Regierungen kaum mehr Notiz nahmen als vom heroischen Aufstand der polnischen Hauptstadt einige Monate danach.
Das Warschauer Programm sah am Morgen nach meiner Ankunft zwei Kranzniederlegungen vor, zunächst am Grabmal des Unbekannten Soldaten. Dort gedachte ich der Opfer von Gewalt und Verrat. Auf die Bildschirme und in die Zeitungen der Welt gelangte das Bild, das mich kniend zeigte - vor jenem Denkmal, das dem jüdischen Stadtteil und seinen Toten gewidmet ist. Immer wieder bin ich gefragt worden, was es mit dieser Geste auf sich gehabt habe. Ob sie etwa geplant gewesen sei? Nein, das war sie nicht. Meine engen Mitarbeiter waren nicht weniger überrascht als jene Reporter und Fotografen, die neben mir standen, und als jene, die der Szene ferngeblieben waren, weil sie »Neues« nicht erwarteten.
Ich hatte nichts geplant, aber Schloß Wilanow, wo ich untergebracht war, in dem Gefühl verlassen, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen. Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.
Ich weiß es auch nach zwanzig Jahren nicht besser als jener Berichterstatter, der festhielt: »Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht knien — weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können.«
Zu Hause in der Bundesrepublik fehlte es weder an hämischen noch an dümmlichen Fragen, ob die Geste nicht »überzogen« gewesen sei. Auf polnischer Seite registrierte ich Befangenheit. Am Tage des Geschehens sprach mich keiner meiner Gastgeber hierauf an. Ich schloß daraus, daß auch andere diesen Teil der Geschichte noch nicht verarbeitet hatten. Carlo Schmid, der mit mir in Warschau war, erzählte später: Man habe ihn gefragt, warum ich am Grabmal des Unbekannten Soldaten nur einen Kranz niedergelegt und nicht gekniet hätte. Am nächsten Morgen, im Wagen auf dem Weg zum Flugplatz, nahm mich Cyrankiewicz am Arm und erzählte: Das sei doch vielen sehr nahe gegangen; seine Frau habe abends mit einer Freundin in Wien telefoniert, und beide hätten bitterlich geweint.
Ich hatte dem Außenminister nahegelegt, den Staatssekretär Georg Ferdinand Duckwitz mit den Verhandlungen über den Warschauer Vertrag zu betrauen. Zu seinen Meriten gehörte, was er während des Krieges, in amtlicher Funktion, zur Rettung der dänischen Juden getan hatte. »Ducky« - ein Musterbeispiel dafür, daß einer nicht Nazi werden mußte, wenn er Nominal-Parteigenosse geworden war. Nach dem Krieg trat er in den Auswärtigen Dienst ein, ließ sich vorzeitig pensionieren und von mir reaktivieren. Dies auch deshalb, weil wir über Ostpolitik ähnlich dachten und er - wie sich bei Verhandlungen über Zahlungsausgleich zeigte — gut mit den Amerikanern konnte. Walter Scheel verlängerte das Engagement nicht, weil er ihm mangelnde Loyalität ankreidete. Was war passiert? Für die dritte Verhandlungsrunde hatte ich Duckwitz einen durchaus harmlosen Brief mitgegeben, der ihm zu einem Gespräch mit Gomulka verhelfen sollte, aber vergessen, Scheel hierzu ein Wort zu sagen. In Warschau bemerkte und schrieb ein Berichterstatter, daß dem Parteichef ein Brief des Kanzlers übergeben worden sei; der Bericht löste Spekulationen und die in Bonn üblichen Aufgeregtheiten aus. Was waren das für »Geheimkontakte«? Und was mochte ich dem Mann in Warschau mitzuteilen haben? Ich war gerade zu Besprechungen in Oslo, als Scheel aufgeregt anrief und nicht leicht zu beruhigen war. Das isoliert gebliebene Mißverständnis und die ihm zugrunde liegende organisatorische Panne ließen sich aufklären, als ich wieder zu Hause war.
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In der Grenzfrage hatte es einigen Nachdenkens bedurft, um die rechtlich-politischen Gegebenheiten und die politisch-psychologischen Notwendigkeiten auf einen Nenner zu bringen. Im Bericht zur Lage der Nation hatte ich zu Jahresbeginn 1970 gemahnt: »Was die Väter verloren haben, das werden wir durch keine noch so schöne Rhetorik und durch keine noch so geschliffene Juristerei zurückgewinnen.« Und dennoch, in Deutschland fiel es weiterhin schwer, sich auf die veränderten Realitäten dieser Welt einzustellen. In Polen war die Oder-Neiße-Grenze zur nationalen Frage schlechthin geworden. Daß die Russen schon 1950 die DDR zur Anerkennung veranlaßt hatten, reichte nicht aus. Das Wort der Bundesrepublik wog für die Polen schwerer, obwohl es eine gemeinsame Grenze nicht gab. Und sie hätten es gern gesehen und als hilfreich empfunden, wenn die Bundesrepublik - für den Fall eines Friedensvertrages - schon vorweg die Verpflichtung eingegangen wäre, daß es bei der Oder-Neiße-Grenze bleibe. Mir ist man damit nicht gekommen. Ich hätte die entgegenstehenden Rechtsbedenken auch nicht überspielen können.

Nichts wird, wie es war

Auf eine der letzten Seiten meines Manuskripts zu den »Erinnerungen« schrieb ich - im Sommer '89 - die Vermutung, in Leipzig und in anderen Städten der DDR würden eines Tages »nicht Hunderte, sondern Hunderttausende« auf den Beinen sein, um ihre Rechte einzufordern. Was sich dann von Woche zu Woche abspielte und zur zugleich tiefgreifenden und friedlichen Umwälzung vom Herbst '89 wurde: Auch ich habe das nicht im einzelnen vorausgesehen. Im übrigen werden die nördlicheren Landesteile der DDR nicht zurückgesetzt, wenn man die bahnbrechende Rolle der Bürger Sachsens hervorhebt.
Berlin war - konnte es anders sein? - der Ort, an dem die Empfindungen der Deutschen zusammenflossen und auf den sich das staunende Interesse der Weltöffentlichkeit konzentrierte. In der Nacht vom 9. zum 10. November wurde die Mauer auf breiter Front durchlässig gemacht; die dramatischen Veränderungen entlang der deutsch-deutschen Grenze folgten. Gut einen Monat zuvor hatte Michail Gorbatschow in Ostberlin gesagt, Zuspätkommende würden vom Leben gestraft. Bald darauf vollzog sich - in der »Hauptstadt der DDR« - ein beginnender und doch schon bemerkenswerter Wechsel an der Spitze des Staates und in der Führung der seit mehr als vierzig Jahren herrschenden Partei, deren Uhr nun abläuft.
An jenem 10. November sprach ich - neben Bürgermeister Momper, Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher - auf einer großen Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus und dachte an den August '61, als ich von der gleichen Stelle aus die bittere Enttäuschung meiner Mitbürger auf den Punkt zu bringen hatte. Es war nicht einfach wie in alten Tagen. Jetzt kam es nicht mehr darauf an, von außen drohenden Gefahren zu widerstehen. Auch nicht mehr auf Appelle, der Trennwand zu trotzen und sich durch sie nicht von der Selbstbehauptung, nicht vom Werk des Aufbaus abbringen zu lassen. Im Innern tief bewegt, Zeuge der vieltausendfachen Wiederbegegnung: Die Stadt war von unverkrampfter Fröhlichkeit erfüllt, von Aggression keine Spur. Die so lange und so wörtlich beschworene Einheit nahm »von unten« Gestalt an und erfaßte nicht nur die getrennten Familien. Mich überkam ein Gefühl großer Erleichterung, gemischt mit der Hoffnung, daß wir nun auch die noch vor uns liegenden Aufgaben meistern würden. Meine Gedanken gingen zurück in den August '61. Welch ein Weg lag hinter uns! Wir hatten uns nicht mit dem Ruf begnügt, die Mauer müsse weg, sondern uns und anderen gesagt, Berlin müsse trotz der Mauer weiterleben und unser Volk zusammengehalten werden, auch in europäische Pflichten eingebettet sein - trotz mehrfacher und vertiefter Teilung.
Und nun waren wir wieder auf dem seit 1963 nach John F. Kennedy benannten Platz vor dem Schöneberger Rathaus. Diesmal waren viele Tausende »von drüben« dabei. Ich sprach zu ihnen und schämte mich nicht meiner Tränen. Und mir ging nahe, wie oft mich danach Briefe und Zurufe erreichten, in denen von Dank die Rede war.
Wie wichtig ist es gewesen, den brutalen Folgen der Trennung durch noch so kleine Schritte entgegenzuwirken, solange größere nicht möglich waren. Heute gibt es darüber kaum noch Streit. Und heute erst eröffnet sich uns die Tragweite jener winzigen Meilensteine! Wo bliebe eine Nation, wenn die Familien nicht verbunden sein könnten!
Die Deutschen, so sagte ich an jenem Berliner Novembernachmittag, rückten auf eine Weise zusammen, die niemand erahnt habe, und keiner sollte so tun, als wisse er, wie genau die Menschen hüben und drüben in ein neues Verhältnis zueinander geraten würden. Daß sie in Freiheit zusammenfinden könnten, darauf komme es an: »Und sicher ist, daß nichts im anderen Teil Deutschlands wieder so werden wird, wie es war. Die Winde der Veränderung, die seit einiger Zeit über Europa ziehen, haben an Deutschland nicht vorbeiziehen können. Meine Überzeugung war es immer, daß die betonierte Teilung und die Teilung durch Stacheldraht und Todesstreifen gegen den Strom der Geschichte standen.« Welch innere Genugtuung, wachrufen zu dürfen, was ich im Sommer zu Papier gebracht hatte: »Berlin wird leben, und die Mauer wird fallen!«

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Ich bat die Mitbürger und Landsleute, den Prozeß der Veränderungen gut zu verstehen und sich richtig in ihn einzuordnen: »Ich weiß, daß unsere Nachbarn im europäischen Osten verstehen, was uns bewegt, und daß es sich einfügt in das neue Denken und Handeln, welches die Zentral- und Osteuropäer selbst in Anspruch nimmt. Die Sicherheit, die wir unseren Nachbarn und auch den großen Mächten dieser Welt bieten können, ist die, daß wir keine Lösung unserer Probleme anstreben, die sich nicht einfügt in unsere Pflichten gegenüber dem Frieden und gegenüber Europa.« Uns leite die Überzeugung, daß die Europäische Gemeinschaft weiterentwickelt und die Zerstückelung unseres Kontinents schrittweise, aber definitiv überwunden werden müsse.
Zum übergeordneten Thema wurde — viel mehr, als es einer durchgängigen Vermutung entsprochen hätte - das Zusammenwachsen der Teile Europas. Die neu bekundete Zusammengehörigkeit der Deutschen, im besonderen Maße geprägt durch das neugewonnene Selbstbewußtsein im östlichen Teil, wurde zu einem ebenso schönen wie wichtigen Unterkapitel. Die »Winde der Veränderung« hatten gewiß nicht nur mit einem Klimawechsel in den Ländern zwischen Deutschland und Rußland zu tun, sondern auch mit veränderten Daten und Stimmungslagen innerhalb der östlichen Großmacht. Doch warum hätte ich mich dafür entschuldigen sollen, daß der Wechsel im geteilten Deutschland mich in Atem hielt - über alle Erwägungen des Verstandes hinweg.
Die Lage hatte sich grundlegend dadurch verändert, daß die Deutschen in der DDR ihr Geschick in die eigenen Hände nahmen. »Das Volk selbst« erhob seine Stimme, daß sich die Dunstglocke von Gängelei und Entbehrung endlich hebe. Es forderte nicht zuletzt das Recht auf wahrhaftige Information, freie Bewegung und freien Zusammenschluß, auch auf angemessenen wirtschaftlichen Nutzen. Es leuchtete ein, daß die Volksbewegung in freie Wahlen münden werde. Freie Wahlen, die diesen Namen auch verdienen. Und - bei allem Verständnis für jene, die sich zum Übersiedeln entschlossen hatten - meinte ich auch, daß es lohnend sei und Ermutigung verdiene, das Werk der Erneuerung an Ort und Stelle voranbringen zu helfen.
Meine abschließenden Sätze auf dem Kennedy-Platz am 10. November '89 lauteten: »Nichts wird wieder so, wie es einmal war. Dazu gehört, daß auch wir im Westen nicht an mehr oder weniger schönen Parolen von gestern gemessen werden, sondern an dem, was wir heute und morgen zu tun, zu leisten bereit und in der Lage sind, geistig und materiell. Ich hoffe, die Schubladen sind nicht leer, was das Geistige angeht. Ich hoffe, die Kassen geben einiges her. Und ich hoffe, die Terminkalender lassen Raum für das, was jetzt sein muß. Die Bereitschaft, nicht zu erhobenem, Zeigefinger, sondern zur Solidarität, zum Ausgleich, zum neuen Beginn, wird auf die Probe gestellt. Es gilt jetzt, neu zusammenzurücken, den Kopf klar zu behalten und so gut wie möglich das zu tun, was unseren deutschen Interessen ebenso entspricht wie unserer Pflicht gegenüber Europa.«
önnen.
In Potsdam war festgestellt worden, die deutsch-polnische Grenzziehung solle endgültig erst »in den Friedensverträgen« geregelt werden. Doch die Aussiedlung der Deutschen hatten der amerikanische Präsident und der britische Regierungschef 1945 sanktioniert, und sie hatten nicht widersprochen, als die neue Grenze festgeschrieben wurde; de Gaulle nahm den anderen übel, daß sie ihn von Potsdam ferngehalten hatten, nicht, daß sie in dieser Weise verfahren waren.
Das Heimatrecht von Millionen Deutschen wurde abgelöst durch ein solches der nach Westen umgesiedelten und der dort nachgeborenen Polen. In der ganzen Welt gab es keine Regierung, die bereit gewesen wäre, sich für deutsche Grenzansprüche zu engagieren. Es dauerte einige Zeit, bis führende Repräsentanten der westlichen Welt die Deutschen öffentlich und deutlich darauf hinwiesen, daß sie sich mit der neuen Grenzziehung abzufinden hätten. Adenauer und seine Vertrauten wußten, wie die Dinge standen. Aber da waren die vielen Stimmen der Flüchtlinge und Vertriebenen und die lauten Stimmen derer, die sich hauptberuflich um sie kümmerten. Die Sozialdemokraten entschlossen sich erst spät, gegen den Strom zu schwimmen. Mir hatte immer Ernst Reuters Wort, gesprochen in seinem Todesjahr, in den Ohren geklungen: Wir sollten den Polen entgegenkommen, man dürfe ihnen nicht noch einmal einen Staat auf Rädern zumuten. Und doch fand ich meinen Namen unter einem Text wieder, der mit »Verzicht ist Verrat« endete. Entscheidend war für mich, jenseits der Frage des Vokabulars, daß Ostpolitik »nicht hinter dem Rücken der Vertriebenen« gemacht werde. Das hieß: Sie müßten ins Vertrauen gezogen werden und selbst abwägen können, was ging und was nicht. Dazu verpflichtete auch der großartige Beitrag, den heimatvertriebene wie geflüchtete Ost- und Sudetendeutsche zum Wiederaufbau geleistet hatten. 1965 trug eine Denkschrift der Evangelischen Kirche nicht wenig dazu bei, die Diskussion zu entkrampfen; die katholischen Bischöfe in der Bundesrepublik taten sich schwerer, auf ihre polnischen Amtsbrüder zuzugehen. Immerhin, den Hauch von Wandel in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre atmete auch Bundeskanzler Kiesinger ein, als er vom Verständnis für das Verlangen des polnischen Volkes sprach, »endlich in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben«.


Quelle: Willy Brandt
Erinnerungen
ISBN: 3-548-36497-7
Ullstein Verlag, München 2002, 9,95 Euro

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