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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Nürnberger Prozesse
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Buchtipp: Täter Opfer Zuschauer
Täter, Opfer, Zuschauer
>>Ich war mir immer bewußt, dass die Täter, Opfer und die Zuschauer denkende Menschen gewesen sind.<< Raul Hilberg (Autor)

Mit diesen drei Kollektivbiographien erinnert Hilberg daran, dass in der Zeit des Nationalsozialismus Menschen systematisch ermordet wurden, dass viele der Massenvernichtung zusahen – auch wenn sie wegschauten.

>>Es gelingt dem Autor, die vielen Facetten eines die Vorstellungskraft übersteigenden Geschehens lebendig werden zu lassen... eine meisterhafte Bilanz, die auch hierzulande einen breiten und aufmerksamen Leserkreis verdient.<< Hans Mommsen (Historiker)

Autor: Raul Hilberg
ISBN: 3-596-13216-9

Buchauszug
Kapitel 19: "Helfer,
Gewinner und Schaulustige"

Im Verlauf der Vernichtungsaktionen gegen die europäischen Juden halfen einige Nichtjuden ihren jüdischen Nachbarn, viele andere taten oder bekamen etwas auf Kosten der Juden, zahllose weitere waren Schaulustige.

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Geholfen wurde im großen und ganzen selten, und wenn, dann meist erst im letzten Moment, als die Razzien und Deportationen schon im Gange waren. Doch selbst in dieser Phase ergriffen die Helfer nur selten die Initiative. Manchmal wurden Juden vor Gefahren gewarnt, wie in der französischen Stadt Clermont-Ferrand, wo voraussichtliche Opfer von Deportationen rechtzeitig Anrufe oder persönliche Botschaften erhielten, meist von Gendarmen oder Sekretärinnen. Nur in Dänemark gab es aktive Suchaktionen, um bedrohte Bürger ausfindig zu machen, doch ansonsten war der Normalfall in ganz Europa, daß die Opfer oder deren bereits tätige Helfer auf potentielle Retter zugehen mußten. Kurz, die meisten Helfer blieben zunächst einmal passiv, und ihre Freundlichkeit kam in der Regel Menschen zugute, die sich schon zum entscheidenden Schritt entschlossen hatten: aus einer Wohnung, einem Getto oder einem Lager zu fliehen.
Es gab zwei Arten der Hilfe. Zum einen die gelegentliche, im Vorbeigehen erfolgende, relativ gefahrlose, etwa wenn jemand ein ahnungsloses Opfer vor geplanten Festnahmen warnte, fliehenden Juden den Weg wies, ihre Verfolger auf falsche Fährten schickte oder mittellosen Menschen mit etwas Eßbarem, Kleidung oder Geld aushalf. Die zweite Art war langfristiger, insbesondere die dauerhafte Unterbringung. Oft genug mußte eine solche Hilfe bezahlt werden, was jedoch nicht besagen soll, daß sich die Helfer nur bereichern wollten, oder daß angesichts aller Umstände damit ein »Geschäft« gemacht wurde. Für Polen oder Ukrainer konnte es schlicht tödlich sein, wenn die Deutschen ihre Tat entdeckten.
Welche Menschen halfen? Prinzipiell mag man unterscheiden zwischen jenen, die Einzelne oder bestimmte Gruppen unterstützen wollten, und anderen, die sich bereitwillig für so gut wie jeden Juden einsetzten, auch für völlig Fremde. Zu jenen Helfern gehörten in erster Linie Freunde, (durch Mischehe) Verwandte, ehemalige Geschäftspartner, Arbeitgeber oder Kollegen.
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In allen diesen Fällen war bereits vor dem Krieg eine persönliche Beziehung oder Bindung geknüpft worden, so daß die Beteiligten voneinander Hilfe in Notsituationen erwarten konnten. Manche nichtjüdische Familien waren bereit, jüdische Kinder aufzunehmen. Diese Entscheidung wurde erwogen, wenn die Eltern akut bedroht waren. Daneben gab es Fälle, in denen sich ein Nichtjude zu einer Jüdin oder eine Nichtjüdin zu einem Juden hingezogen fühlte. Meist dürften diese Begegnungen von kurzer Dauer, ja sogar flüchtig gewesen sein. Sofern sich daraus feste Verbindungen entwickelten, waren sie unweigerlich kompliziert, besonders für jüdische Frauen, selbst wenn der Mann keinerlei Druck ausübte. Darüber steht jedoch in Memoiren kaum etwas zu lesen.
Die anderen Helfer handelten entweder aus Opposition gegen das Regime, aus reiner Sympathie oder aus dem Gefühl, eine humanitäre Pflicht zu erfüllen. Unter den Oppositionellen gab es politisch motivierte wie Oskar Schindler, der jüdische Arbeiter in seiner Fabrik unterbrachte, um sie zu retten, polnische Kanalreiniger, die Juden dabei halfen, sich im Abwassersystem von Lwow zu verstecken, und mehrere linksradikale oder kommunistische deutsche Zivilisten im Bezirk Bialystok, die jüdischen Widerstandskämpfern im Getto Waffen zukommen ließen. Über die humanitären Helfer ist viel geschrieben worden. Man nannte sie etwa Altruisten, gerechte Nichtjuden oder barmherzige Samariter, aber äußerlich gesehen hatten sie wenig gemeinsam. Es waren Männer und Frauen, ältere oder jüngere, reichere oder ärmere Leute. Wie die Täter, deren Gegenteil sie waren, konnten sie ihre Motive nicht erklären. Sie nannten ihr Handeln normal oder natürlich, und nach dem Krieg fühlten sich manche von ihnen durch das öffentliche Lob peinlich berührt. Oft waren sie Mitglieder einer Gemeinde, wie die Protestanten in der französischen Stadt Le Chambon, die in einem kleinen Gebiet viele Juden schützten; zumindest bildeten sie einen Zusammenhalt und waren Gleichgesinnte in einem losen Netzwerk von Helfern. Oft mußten sie sich ganz schnell entscheiden.
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In diesem Sinne hatten sie etwas mit den jüdischen Flüchtlingen gemeinsam, die ebenfalls nicht zauderten. Schließlich mußten sie beweglich genug sein, um Lebensgewohnheiten ändern oder aufgeben zu können, besonders wenn die verabredeten drei Tage Sicherheit auf drei Wochen oder drei Monate ausgedehnt werden mußten. Manchmal dürften sie nur widerstrebend immer neue Zugeständnisse gemacht haben, und es mögen auch Spannungen zwischen ihnen und ihren Logiergästen aufgetreten sein, doch aufgrund ihrer positiven Entscheidung bildeten sie immerhin eine Klasse für sich.
Während der jüdischen Katastrophe gab es jedoch mehr Nehmer als Geber. Vielfach mußten die Nutznießer wenig oder gar nichts tun, um sich des neuen Segens zu erfreuen: Nachdem jüdische Betriebe liquidiert worden waren, gewannen die nichtjüdischen Hersteller und Händler automatisch Marktanteile hinzu. Durch die Auswanderung, später gefolgt von der Gettoisierung und Deportation zahlloser Juden, wurden weit über .. eine Million Wohnungen frei, auch wenn wählerische Volksdeutsche manchmal, wie in Minsk, Unterkünfte in Gettos ablehnten. Bei den jüdischen Gemeinden erhobene Abgaben wurden gelegentlich an örtliche Einwohner verteilt, wie in Tunesien, und so fort.
Gewiß schlugen auch viele aktiv Profit aus der Not. Bereits 1933 verfolgten deutsche Medizinstudenten ihre jüdischen Kommilitonen, um sich die Konkurrenz vom Hals zu schaffen. Deutsche Unternehmen und deren Hausbanken, die begehrlich auf jüdische Betriebe blickten, übernahmen ihre Beute in einseitigen Verhandlungen, noch dazu gefördert durch staatliche Verordnungen. Bei den Schwarzmarktgeschäften im besetzten Polen konnten die polnischen Lieferanten nach Belieben Bargeld und Wertsachen bei den Opfern abschöpfen. Manche lieferten flüchtige Juden gegen Bezahlung ans Messer, andere schröpften solche Opfer, die untertauchen oder sich tarnen wollten. Wenn die Juden tot waren, wurden Plünderer rege.
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Im Distrikt Radom durchstöberten sie verwaiste Gettos und schleppten weg, was sie nur konnten. In Riga fielen sie über gestapelte Koffer her, bei Belzec, wo die Deutschen ein Vernichtungslager aufgelöst hatten, suchten sie in der Asche nach Gold und Diamanten. Nichtdeutsche Habgierige, die vielfältige Gelegenheiten nutzten, wie in der Slowakei, sollen geäußert haben: »Besser wir als die Deutschen.«
Während der Phasen Konzentration, Deportationen und Massentötungen versuchten die Täter, die Opfer vor den Blicken der Öffentlichkeit abzuschirmen. Die Verwalter der »Endlösung« wollten unbeobachtet vorgehen, wollten Kritik an ihren Methoden von Passanten gar nicht erst aufkommen lassen. Ihr psychisches Gleichgewicht war ohnehin bedroht genug, besonders vor Ort, und jede Sympathiekundgebung für die Opfer hätte weitere psychische oder technische Komplikationen geschaffen. Auch Voyeure waren nicht willkommen. Gaffen, besonders von Deutschen, galt als unfein. Ob nun das Spektakel die Zuschauer anwiderte oder reizte: Alle Gerüchte und Schilderungen, die später darüber kursierten, verunsicherten und bedrohten die Täter.
Dementsprechend traf man aufwendige Vorkehrungen. In Deutschland wurden Juden manchmal in den frühen Morgenstunden abgeholt, bevor der Straßenverkehr einsetzte. Man benutzte fensterlose Möbelwagen, um Juden an die Züge zu bringen. Das Umladen konnte für ein Nebengleis geplant werden, vor dem sich Müll häufte. In Polen ordneten die deutschen Behörden bei Judenrazzien an, daß polnische Anwohner in den Häusern bleiben, Fenster und Rolläden schließen mußten, obwohl sie damit die bevorstehende Aktion verrieten. Erschießungsstellen wurden, wie in Babi Yar bei Kiew, so gewählt, daß sie wenigstens außer Hörweite der örtlichen Anwohner lagen.
Nicht alle diese Vorbeugemaßnahmen waren rundweg erfolgreich.
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Zum einen ließ sich nicht immer verbergen, daß etwas geschah. So mußte die nichtjüdische Bevölkerung nicht erst solche Maßnahmen sehen, um zu erkennen, daß immer mehr Juden verschwanden. An der kleinen Bahnstation Sobibor begriff ein polnischer Weichensteller außerhalb des Lagers, als er »eine wirklich absolute Stille [wahrnahm]. Vierzig Waggons waren angekommen, und dann nichts mehr.« Neben solchen Schlußfolgerungen gab es auch direkte Eindrücke von den Aktionen selbst. Entdeckungen machten zum Beispiel Menschen, die zufällig in ein Ereignis hineingerieten. So beklagte ein deutscher Heeresinspekteur im besetzten Polen, Soldaten hätten unfreiwillig mitansehen müssen, wie hochschwangeren jüdischen Frauen Gewehrkolben in die Leiber gestoßen wurden. Oft genug ließen sich Gaffer nicht aussperren. 1943 versammelten sie sich auf der Insel Korfu an Straßenrändern und auf Baikonen, um zuzusehen. Im ungarischen Szeged, wo Juden 1944 eines Morgens, flankiert von einheimischen Gendarmen, im Marschschritt zum Zug geführt wurden, standen die Menschen an den Straßen und lachten. 1941 schaute in Shitomir eine Gruppe von Soldaten auf Hausdächern zu, wie zwei Juden erhängt wurden.
In München stand ein SS-Leutnant vor dem Obersten SS- und Polizei-Gericht, weil er von ihm angeordnete Erschießungen photographiert hatte. Die Aufnahmen ließ er in zwei süddeutschen Labors entwickeln, um sie seiner Frau und mehreren Bekannten zu zeigen, womit er riskierte, daß Berichte über das Gesehene in die neutrale Schweiz gelangten und »der Propaganda dienten«. Dieses Verhalten konnte das SS-Gericht nicht billigen.
Die Zuschauer hatten ein Geheimnis aufgespürt. Einige deuteten den Opfern an, daß sie etwas wußten, sagten aber nicht klar, worum es ging. Einmal hörten ahnungslose jüdische Deportierte auf dem Weg nach Sobibor die ihnen unbegreiflichen Worte: »Juden, ihr werdet brennen.«
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Ein andermal deuteten polnische Bauern einer Gruppe von Juden, die nach Treblinka deportiert wurden, mit Gesten an, daß man ihnen die Kehlen durchschneiden würde. Und dabei beließen sie es — zwischen Warnung und Hohn.

Quelle: Raul Hilberg
Täter, Opfer, Zuschauer
ISBN: 3-596-13216-9
S. Fischer Verlag GmbH

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