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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Berliner Blockade
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Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Autor: Manfred Görtemaker
ISBN: 3 89331 456 3

Buchauszug
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik nur etwa 43 Millionen Menschen. Anfang der fünfziger Jahre waren es schon 50 Millionen, 1961 sogar 56 Millionen, 1965 dann 59 Millionen und 1989 schließlich 66 Millionen, unter ihnen etwa fünf Millionen Ausländer. Der Bevölkerungszuwachs betrug allein während der Regierungszeit Adenauers mehr als neun Millionen und war das Ergebnis mehrerer großer Wanderungsströme, die nach 1945 zu einer grundlegenden Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung in Westdeutschland führten und die Bundesrepublik vor allem in ihrer Anfangsphase vor schwierige Probleme stellten: Zu Hunderttausenden kehrten die Kriegsteilnehmer aus den Gefangenenlagern in die Heimat zurück, zu Millionen strömten Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten jenseits von Oder und Neiße sowie Flüchtlinge aus der DDR nach Westen. Auf dem Territorium der drei Westzonen und dann der Bundesrepublik mussten sie in die noch wenig stabile Nachkriegsgesellschaft integriert werden, beanspruchten Nahrung, Wohnraum und Beschäftigung in einer Zeit großen Mangels und hoher Arbeitslosigkeit, als der Erfolg des «Wirtschaftswunders» noch nicht absehbar war und niemand wusste, wie das weithin zerstörte Land mit den Folgen von Krieg, Niederlage und Teilung fertig werden sollte.
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Diese demographische Dynamik hatte weitreichende soziale und kulturelle Auswirkungen. Die innere Schichtung der Gesellschaft war davon ebenso betroffen wie deren Verhaltensmuster.
Neue Orientierungen traten an die Stelle tradierter Normen und Werte, konfessionelle Grenzen verwischten sich, das politisch-historische Selbstverständnis und die ideologische Ausrichtung gewannen eine neue demokratisch-pluralistische Dimension. Zu diesen Veränderungen trugen aber auch die Deklassierungs- und Nivellierungsprozesse bei, die sich während der nationalsozialistischen Herrschaft vollzogen hatten und durch den allgemeinen Zusammenbruch von 1945 sowie die Folgen des Krieges noch verschärft wurden. Mit ihrer Auflockerung tradierter Strukturen verhalfen sie dazu, die Herausbildung einer modernen Industriegesellschaft in der Bundesrepublik zu erleichtern. Die Teilung Deutschlands beendete schließlich nicht nur die quantitative Minderheitslage der Katholiken, sondern auch die Spannung zwischen der ostdeutschen Gutswirtschaft und der west- und süddeutschen Familienwirtschaft. Zwei schwerwiegende politische und wirtschaftliche Strukturdefizite des ehemaligen Deutschen Reiches blieben der Bundesrepublik damit erspart.
Zugleich ging die Bedeutung der Landwirtschaft - also des «primären Sektors» — im Verhältnis zum zweiten Sektor, der industriellen Produktion, und zum «tertiären Sektor» der Dienstleistungen ständig zurück. Dabei handelte es sich allerdings nicht um ein spezielles Phänomen der Bundesrepublik, sondern um ein typisches Merkmal der Entwicklung aller modernen Industriegesellschaften. So lag der Anteil der im Agrarsektor tätigen Menschen an der Gesamtzahl der Beschäftigten in der Bundesrepublik bereits 1950 nur noch bei 22 Prozent; bis 1960 sank er sogar auf 13 Prozent. Die Industrie beschäftigte dagegen schon in den fünfziger Jahren knapp die Hälfte aller Arbeitskräfte, während der tertiäre Sektor, der schließlich sowohl die Landwirtschaft als auch die Industrie überflügeln sollte, zu dieser Zeit noch bei 20 Prozent lag und erst in den sechziger und siebziger Jahren entscheidend an Boden gewann. Der Anteil der selbstständig Beschäftigten nahm im Laufe dieser Entwicklung kontinuierlich ab und lag bereits 1960 unter 20 Prozent -gegenüber immerhin noch 28 Prozent im Jahre 1950. Die moderne kapitalistische Industriegesellschaft, die formal auf dem freien Unternehmertum beruhte, war damit in Wirklichkeit - zumindest in quantitativer Hinsicht - eine vielfältig differenzierte Arbeitnehmergesellschaft, in der es zu einer vorrangigen Aufgabe der Politik wurde, die Rahmenbedingungen für Aufstieg und soziale Sicherung auf allen Ebenen zu schaffen.
Tatsächlich machte nur der rasche wirtschaftliche Aufschwung die relativ reibungslose Integration der Millionen Zuwanderer möglich, die nach 1945 in den Westen Deutschlands strömten. Immerhin waren in der jungen Bundesrepublik 1949 infolge Flucht, Vertreibung und Umsiedlung nicht weniger als 19,3 Prozent der Bevölkerung Vertriebene oder Kinder von Vertriebenen - also nahezu ein Fünftel. Mit Erreichen der Vollbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt im Jahre 1958 konnte die soziale Eingliederung der Flüchtlinge, die der erstarkenden Wirtschaft als ebenso qualifizierte wie motivierte Arbeitskräfte durchaus willkommen waren, im Wesentlichen als vollzogen gelten. Es hatte dazu allerdings eines starken staatlichen Rahmens bedurft, um die Integration praktisch zu verwirklichen. Das wichtigste Instrument hierbei war das Gesetz über den Lastenausgleich (LAG) vom 14. August 1952, nachdem zuvor bereits mehrere Verordnungen zur Eingliederung von Heimatvertriebenen in die Landwirtschaft (10. August 1948), zur Hypothekensicherung (2. September 1948) und zur «Behebung dringender sozialer Notstände» (8. August 1949) erlassen worden waren. Ein Lastenausgleich erschien unbedingt notwendig, weil allein der Verlust an Privatvermögen, den die deutschen Vertriebenen erlitten hatten, auf 299,6 Milliarden DM beziffert wurde. Die Schätzung der Gesamtvermögensverluste - also einschließlich der öffentlichen Vermögensverluste -belief sich sogar auf 355,3 Milliarden DM. Das Lastenausgleichsgesetz sah Vermögens-, Hypotheken- und Kreditgewinnabgaben für diejenigen Schichten der Bevölkerung vor, denen es gelungen war, Vermögen in die neue Zeit hinüberzuretten. Die Besitzenden im Westen sollten also mit einer Vermögensabgabe den Opfern von Kriegssachschäden und Vertreibungsschäden helfen, um eine gleichmäßigere Verteilung der Kriegs- und Kriegsfolgekosten zu erreichen. Dies gelang. Die friedliche Eingliederung der Vertriebenen stellt deshalb eine politische, wirtschaftliche und menschliche Leistung dar, die kaum hoch genug bewertet werden kann. Sie zählt zu den bedeutendsten Beiträgen zur Sicherung des europäischen Friedens nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Bewusstsein der meisten Westdeutschen verklärte sich das «Wirtschaftswunder» der zweiten deutschen Gründerzeit zwischen 1950 und 1958 deshalb zum sinnstiftenden Mythos. Aus einer Situation elementaren Mangels an Lebensmitteln, Wohnraum und Arbeitsplätzen war in weniger als einem Jahrzehnt eine neuartige Konsumgesellschaft entstanden, deren Mitglieder nicht länger nur damit beschäftigt waren, ihre materiellen Grundbedürfnisse zu sichern, sondern sich nun auch mit Luxusgütern, wie Autos, Fernsehern und Auslandsreisen, vertraut machen durften. Zugleich führten die anhaltende Prosperität sowie die damit einhergehende Modernisierung und nachhaltige Lebensveränderung zu einem politisch-sozialen Strukturwandel, den Josef Mooser als «Abschied von der Proletarität» beschrieben hat. Die traditionelle Enge und Unsicherheit des «proletarischen» Lebenszuschnitts wurden weithin überwunden. Die Vollbeschäftigung sowie die Arbeitszeitverkürzung und Steigerung der Einkommen gaben den vormals nur ungenügend abgesicherten Arbeitern nicht nur soziale Sicherheit, sondern boten ihnen zum ersten Mal auch die Chance zu einer nicht mehr ausschließlich durch Mühsal bestimmten Existenz. Muße und Freizeit, früher nur den höheren Schichten vorbehalten, wurden jetzt allen Menschen zugänglich. Darüber hinaus bewirkte die institutionelle wie materielle Erweiterung der Sozialpolitik, etwa die Dynamisierung der Renten seit 1957, einen fundamentalen Wandel im lebens- und familienzyklischen Einkommensverlauf, durch den ein stärker individuell bestimmtes Privatleben möglich wurde.
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Der Soziologe Helmut Schelsky sprach in diesem Zusammenhang bereits 1953 von einer «nivellierten Mittelstandsgesellschaft», für die ihm der Typ der industriell arbeitenden und konsumorientiert lebenden Kleinfamilie prägend zu sein schien, die bis Mitte der sechziger Jahre für geburtenstarke Jahrgänge sorgte und allgemeine Zufriedenheit mit dem Erreichten der Aufbauzeit bekundete. Die Herausbildung einer kleinbürgerlich-mittelständischen Gesellschaft -«ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich» - war für Schelsky zugleich Beweis für die Überwindung der Klassengesellschaft. Der wachsende Wohlstand für viele, wenn auch vielleicht nicht für alle, die Änderung und Angleichung der Lebensgewohnheiten, Routinen, Sitten und Gebräuche im Alltag sowie die bemerkenswerte Zufriedenheit des weit überwiegenden Teils der Bevölkerung mit dem politischen und ökonomischen System der Bundesrepublik bedeuteten zugleich die Widerlegung von Karl Marx. Die Modernisierung des Kapitalismus war offenbar nicht gleichbedeutend mit seiner Radikalisierung. Jedenfalls schien die Bundesrepublik mit ihrem ökonomischen Aufschwung auf dem Weg, den Kreislauf von Krieg, Not und Revolution zu durchbrechen und eine Gesellschaft zu errichten, die sich nicht nur durch Freiheit, sondern auch durch ein hohes Maß an Gleichheit auszeichnete.
In Wirklichkeit konnte von „Nivellierung“ im Sinne Schelskys allerdings kaum die Rede sein. Es erscheint vielmehr angemessen, von einer «Schichtungsgesellschaft» zu sprechen, in der zwar die Klassengesellschaft nicht mehr existierte, wohl aber eine «ungleiche Gesellschaft mit deutlich höher und tiefer stehenden Bevölkerungsteilen». Zumindest prinzipiell stand darin allen Bürgern die Möglichkeit offen, durch individuelle Leistung in Ausbildung und Beruf einen sozialen Aufstieg anzustreben. Hinzu kam die Angleichung von Lebensstandard, Alltagsgewohnheiten und Freizeitgestaltung. Am meisten profitierten davon die unteren Schichten, die mit der für sie ungewohnten Möglichkeit zur Vermögensbildung kulturell «verbürgerlichten». Die Erosion traditioneller Identitätsmuster der «Arbeiterklasse» war deshalb hier besonders augenfällig. Die Öffnung des Bildungswesens und die mit dem Produktivitätssprung der Industrie bzw. mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors einhergehende Entstehung neuer Berufe machte zudem aus Arbeitern häufig Facharbeiter bzw. qualifizierte Angestellte. Die verbesserten Aufstiegsmöglichkeiten für Arbeiter bewirkten wiederum eine Lockerung ihrer ursprünglichen politischen Bindung an die klassischen Arbeiterparteien und Gewerkschaften. Die Identifikation mit kollektiven Interessenorganisationen trat zugunsten eines eher individuellen Leistungsdenkens bzw. eines stärker familienbezogenen Selbstverständnisses zurück.
Die Dynamik des Wirtschaftswunders und der damit verbundene tiefgreifende soziostrukturelle Wandel führten somit zwar nicht zu einer Nivellierung der Vermögensverhältnisse, wohl aber zu einer Egalisierung der Konsum- und Freizeitorientierung, die letztlich das Erscheinungsbild der Gesellschaft in der Bundesrepublik mindestens ebenso sehr prägte wie die fortbestehende soziale Differenzierung nach Bildung, Beruf oder Einkommen. Ob man die Gesellschaft der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren demnach als «nivellierte Mittelstandsgesellschaft», als eine «Gesellschaft jenseits von Klasse und Stand» oder als «pluraldifferenzierte Wohlstandsgesellschaft» charakterisiert, ist eine Frage, die in erster Linie die Soziologen beschäftigt. Alle diese Kategorien umreißen indessen eine Sozialstruktur, die sich von der überkommenen Klassengesellschaft grundsätzlich unterschied und in der Freizeit und Konsum einen zentralen
Stellenwert gewannen. Alte milieudifferenzierende Indikatoren wie Lebensstandard, Arbeit und Umgebung wurden durch neue ausgeklügelte Kriterien, wie Qualität der Bekleidung, Lage und Ausstattung der Wohnung, Besitz oder Nichtbesitz eines Autos sowie die Möglichkeit zu reisen, ergänzt. Schichtenzugehörigkeit bzw. Herkunftsmilieu wurden nicht mehr allein durch Beruf, tatsächliches Einkommen oder den Wohnort bestimmt, sondern immer häufiger auch durch Symbole eines realen oder vermeintlichen Wohlstands dokumentiert.

Quelle: Manfred Görtemaker
Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
ISBN: 3 89331 456 3
C.H. Beck Verlag, München 2002, 24,90 Euro

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