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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Mauerfall
 

Sturz Honeckers
Für die SED-Spitze waren die Ereignisse während der Jahrestagsfeierlichkeiten ein weiterer schwerer Misserfolg. Vor allem Erich Honecker hatte bewiesen, dass er ohne Einsicht war und völlig den politischen Instinkt verloren hatte, der ihn früher einmal ausgezeichnet hatte. Zwei Tage nach dem Jubiläum, am 8. Oktober, ergriff daher Egon Krenz am Rande eines Treffens, auf dem Erich Mielke vor leitenden Sicherheitskadern über die Vorgänge berichtete, die Initiative und erörterte mit Günter Schabowski ein fünfseitiges, in Ansätzen kritisches Papier. Es sollte vom Politbüro verabschiedet und als Proklamation der Parteiführung veröffentlicht werden. Allerdings lehnte Honecker, der allein das Recht hatte, Vorlagen im Politbüro zur Diskussion zu stellen, wie nicht anders zu erwarten, eine Erörterung des Papiers ab. Doch diesmal erklärte Krenz, dass die Parteiführung nicht länger schweigen dürfe, und kam schließlich telefonisch mit Honecker überein, die Angelegenheit am folgenden Tag nochmals zu besprechen.
Dieser Tag, der 9. Oktober 1989, war besonders spannungsgeladen, weil bei der anstehenden Montagsdemonstration in Leipzig das Schlimmste befürchtet wurde. Man erwartete nach den vorangegangenen Ereignissen nicht nur eine weitere Zunahme der Teilnehmenden, sondern rechnete nach dem Ende der Feierlichkeiten auch mit einem besonders harten Vorgehen der Staatsmacht. In den Kirchen der Stadt und über den Leipziger Stadtfunk wurde daher ein Aufruf verlesen, der die Unterschriften so unterschiedlicher Personen wie des Kapellmeisters des Gewandhausorchesters, Kurt Masur, des Pfarrers Peter Zimmermann, des Kabarettisten Bernd-Lutz Lange und der drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung Leipzig trug und zu einem freien und friedlichen Dialog aufforderte. In Ostberlin bemühte sich Krenz, die örtlichen Sicherheitsorgane von der Zentrale aus zum Stillhalten zu verpflichten. Tatsächlich blieb alles ruhig. Und Krenz erreichte bei Honecker sein Ziel, seine Proklamation im Politbüro beraten zu lassen, auch wenn die unwirsche Reaktion seines langjährigen Ziehvaters ihn in der Überzeugung bestärkte, dass dessen baldige Ablösung unvermeidlich sei.
Als der Text schließlich am 12. Oktober in leicht veränderter Form im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" veröffentlicht wurde, war das Ergebnis enttäuschend: Die erhoffte positive Resonanz blieb aus. Zu wenig war zu spät vom Politbüro geäußert worden. Die Glaubwürdigkeit war so nicht wiederherzustellen. Allerdings war auch der Sturz Honeckers inzwischen kaum noch aufzuhalten. Am selben Tag, als die Proklamation des Politbüros im "Neuen Deutschland" erschien, wurde der Generalsekretär in einer Sitzung mit den Be-zirkschefs der SED derart scharf kritisiert, wie es im Politbüro noch nie vorgekommen war. Vor allem Hans Modrow aus Dresden, der durch die Flüchtlingszüge aus Prag und die damit zusammenhängenden Zusammenstöße schwer in Bedrängnis geraten war, tat sich hervor. Krenz fühlte sich dadurch ermutigt, in der folgenden Politbürositzung am 17. Oktober den Coup zu wagen. Gemeinsam mit Schabowski und dem Vorsitzenden des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Harry Tisch, verabredete er am 15. Oktober, dass Honecker gleich zu Beginn der Sitzung von Ministerpräsident Willi Stoph zum Rücktritt aufgefordert werden solle. Tisch wurde beauftragt, am folgenden Tag anlässlich eines seit langem terminierten Besuchs bei seinem sowjetischen Amtskollegen Stepan Schalajew in Moskau Gorbatschow über die geplante Aktion zu informieren.
Da die Situation in den Bezirken eindeutig zu sein schien und auch aus Moskau keine Einwände kamen, brachte Stoph am 17. Oktober die Rücktrittsforderung vor, die sich ebenfalls auf Mittag und den im ZK der SED für Agitation und Propaganda zuständigen Joachim Herrmann erstreckte. Honecker leistete kaum Widerstand. Alle Politbüromitglieder, auch Günter Mittag und Erich Mielke, plädierten für die Annahme der Rücktrittsforderungen. Diese wurden einstimmig beschlossen. Honecker, Mittag und Herrmann votierten gegen sich selber.

Quelle: "Informationen zur politischen Bildung", Copyright
Bundeszentrale für politische Bildung
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