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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Weltweite Wirtschaftskrise
 

Reichstagswahlen 1932
Am 31. Juli 1932 gingen mehr Bürgerinnen und Bürger zur Wahl als je zuvor (84,1 Prozent). Die SPD verlor abermals Stimmen an die KPD. Zwei Jahre Tolerierungspolitik gegenüber Brüning, der Ausschluss prominenter linker Kritiker des Parteikurses (im September 1931), die Mitwahl Hindenburgs und das Stillhalten in Preußen hatten Teile der SPD-Wählerschaft enttäuscht. Mit Ausnahme von Zentrum und BVP, die leichte Gewinne erzielten, wurden die bürgerlichen Mittelparteien fast völlig aufgerieben. Auch die DNVP musste erneut - diesmal leichtere - Verluste hinnehmen. Wie schon im Preußischen Landtag gab es künftig auch im Reichstag eine "negative Mehrheit" der radikalen Flügelparteien.
Überragender Wahlsieger wurde erwartungsgemäß die NSDAP. Weil sie wohl allen Parteien, außer KPD und Zentrum, in unterschiedlichem Umfang Wähler abspenstig machte, konnte sie ihren Anteil an Stimmen (13,7 Millionen = 37,3 Prozent) und Mandaten (230) mehr als verdoppeln. Damit stellte sie die weitaus stärkste Reichstagsfraktion - und nach parlamentarischem Brauch den Reichstagspräsidenten (Hermann Göring). Die anhaltende krisenbedingte Polarisierung und Radikalisierung großer Teile der Bevölkerung und ein überaus geschickter, kostspieliger Wahlkampf (überwiegend finanziert aus Eigenmitteln, zum Teil auch aus Wirtschaftsspenden) führten der NSDAP neue Wählermassen zu. Um möglichst viele Wahlreden halten zu können, benutzte Hitler als erster deutscher Politiker ein Flugzeug. Auch in der Plakatwerbung ging die NSDAP neue Wege: "Unsere letzte Hoffnung: HITLER" - diese eingängige Parole vor dem Hintergrund verzweifelter Menschen erwies sich als sehr wirkungsvoll. Dagegen trat der Antisemitismus in den Hintergrund, da sich die Nationalsozialisten aus taktischen Gründen um einen seriöseren Anstrich bemühten.
Hitlers Partei war jetzt "das große Auffangbecken für alle Gegner des demokratischen Systems, für alle Enttäuschten, Verbitterten und Fanatisierten" (Eberhard Kolb), soweit diese nicht der KPD zuneigten. Gleichwohl kamen bei der NSDAP unverändert etwa 60 Mittelschichtwähler auf 40 Wähler aus Arbeiterhaushalten (Jürgen W. Falter). Manche Historiker sehen in ihr die erste moderne "Volkspartei" unter den Weimarer Klassen-, Interessen - und Konfessionsparteien; dafür fehlten ihr jedoch wichtige Merkmale wie innerparteiliche Demokratie und konstruktive politische Ziele. Sie blieb eine rechtsextreme "schichtenunspezifische Protestbewegung mit Mittelschichtenschwerpunkt" (Helga Grebing).
Gestützt auf seinen Wahlerfolg, nahm Hitler sogleich seine Zusage zurück, die Regierung Papen zu tolerieren. Schleichers Angebot einer Regierungsbeteiligung schlug er aus und verlangte stattdessen am 13. August 1932 von Hindenburg "die Führung einer Regierung und die Staatsführung in vollem Umfange" für die NSDAP. Die "Kamarilla" war jedoch nicht gewillt, die Macht aus den Händen zu geben. Hindenburg, der für den "böhmischen Gefreiten" (wie er Hitler fälschlich zu nennen pflegte) ohnehin keine Sympathien besaß, ließ bekannt geben, er könne es nicht verantworten, "die gesamte Regierungsgewalt ausschließlich der nationalsozialistischen Bewegung zu übertragen, die diese Macht einseitig anzuwenden gewillt sei". Damit bereitete er Hitler nach der Reichspräsidentenwahl eine zweite empfindliche Niederlage.
Da der Regierung von Papen zweifellos ein Misstrauensvotum des neugewählten Reichstages bevorstand, Papen aber längere Zeit im Amt bleiben sollte, ermächtigte Hindenburg den Kanzler am 30. August 1932, das Parlament sogleich wieder aufzulösen, ohne innerhalb der 60-Tage-Frist erneut wählen zu lassen. Vor einem derart schweren Verfassungsbruch schreckte Papen jedoch zurück. So erlitt der Kanzler am 12. September eine vernichtende Niederlage: In seiner ersten Arbeitssitzung sprach der Reichstag der Regierung mit 512 gegen 42 Stimmen der DVP und DNVP das Misstrauen aus. Noch während der Abstimmung löste Papen mittels einer vorbereiteten Order des Reichspräsidenten den Reichstag wieder auf.
Bis zur verfassungsgemäßen Neuwahl erließ die Regierung Papen noch einige bemerkenswerte wirtschaftspolitische Notverordnungen. Hatte sie anfänglich die Brüningsche Deflationspolitik noch verschärft (Kürzung des Arbeitslosengeldes um durchschnittlich 23 Prozent und Verringerung des Bezugszeitraums von 20 auf sechs Wochen, Beschneidung der Krisen- und der Wohlfahrtsunterstützung um 17 bzw. 15 Prozent), so setzte sie nach dem Wegfall der Reparationsbelastungen neue wirtschaftspolitische Akzente. Im Juli wurde ein "Freiwilliger Arbeitsdienst" gegründet, dem Ende 1932 bereits 250000 Arbeitslose angehörten. Per Notverordnung vom 4. September 1932 wurden 135 Millionen RM für staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bereitgestellt. 700 Millionen RM sollten in Form von beleihbaren Steuergutscheinen in die Unternehmen fließen und der Finanzierung von Investitionen dienen. Mit weiteren Steuergutscheinen im Umfang von 1,5 Milliarden RM sollten die Betriebe bis 1938 einen Teil ihrer Steuern und Zölle bezahlen können. Die Verordnung vom 5. September erlaubte Unternehmen, die Arbeitslose einstellten, die Tariflöhne um bis zu 20 Prozent zu unterschreiten. Schon seit dem 15. Juni 1932 galten staatliche Schiedssprüche bei Tarifverhandlungen nur noch als unverbindliche Empfehlungen - damit war die Zwangsschlichtung beseitigt. Insgesamt bedeuteten diese Maßnahmen den vorsichtigen Übergang zu einer aktiven Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mittels einer antizyklischen Konjunkturpolitik entsprechend den Lehren des britischen Nationalökonomen John Maynard Keynes (1883-1946).
Papens Programm fand augenscheinlich die Zustimmung großer Teile der Industrie, während die geplanten Lohnsenkungen von den Gewerkschaften kritisiert wurden. Jedoch gegen deren Willen kam es vom 3. bis 7. November zu einem "wilden" Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben, der den gesamten öffentlichen Nahverkehr der Hauptstadt lahm legte. Organisiert wurde er von Kommunisten und Nationalsozialisten (zum Teil gemeinsam), die auf diese Weise um Arbeiterstimmen warben. Auseinandersetzungen mit der Polizei forderten drei Tote.
Aus dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 6. November 1932 schöpften die Demokraten erstmals wieder Hoffnung. Zwar erzielte die KPD erneut einen beträchtlichen Stimmenzuwachs auf Kosten der SPD und brachte es auf 100 Mandate; auch war die Lage der bürgerlichen Mittelparteien (mit Ausnahme des Zentrums) weiterhin desolat; aber im rechten Lager fand eine dramatische Veränderung statt. Die "Papen-Parteien" DVP und DNVP verzeichneten leichte Gewinne, während die NSDAP erstmals seit 1928 Verluste hinnehmen musste. Sie verlor gut zwei Millionen Stimmen (4,2 Prozent) bzw. 34 Mandate. Die nationalsozialistische Welle hatte ihren Höhepunkt erreicht und begann wieder abzuflauen - so urteilte die seriöse Presse. In der Tat setzte sich der Abwärtstrend der NSDAP fort: Am 4. Dezember verlor sie bei den Kommunalwahlen in Thüringen im Verhältnis zur Reichstagswahl vom November fast 25 Prozent, zu der vom Juli fast 40 Prozent ihrer Wählerstimmen.
Wo lagen die Ursachen für die Stimmenverluste der NSDAP? In erster Linie waren viele ihrer Anhänger unzufrieden mit Hitlers anscheinend erfolgloser Alles-oder-nichts-Strategie. Auch hatte die punktuelle Zusammenarbeit zwischen NSDAP und KPD beim Berliner Verkehrsstreik manche bürgerlichen Wähler irritiert. Darüber hinaus wirkte offenbar abstoßend, dass Hitler sich öffentlich mit brutalen Mördern solidarisierte. Am 10. August 1932 hatten fünf angetrunkene SA-Leute im oberschlesischen Dorf Potempa einen der KPD nahestehenden Arbeitslosen brutal getötet. Am Vortag hatte Papen eine Notverordnung gegen politischen Terror erlassen, die unter anderem die Todesstrafe auf politisch motivierten Totschlag ausdehnte. Als daher die Täter von Potempa am 22. August zum Tode verurteilt wurden, schickte Hitler ihnen ein Telegramm, mit dem er die gesamte bürgerliche Rechtsordnung infrage stellte: "Meine Kameraden! Angesichts dieses ungeheuerlichen Bluturteils fühle ich mich mit euch in unbegrenzter Treue verbunden. Eure Freiheit ist von diesem Augenblick an eine Frage unserer Ehre, der Kampf gegen eine Regierung, unter der dieses möglich war, unsere Pflicht!" Papen, der als Reichskommissar für Preußen auch das Begnadigungsrecht ausübte, sorgte am 2. September für die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe. Schon im März 1933 wurden die Täter auf freien Fuß gesetzt.


Quelle: "Informationen zur politischen Bildung", Copyright
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