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2. Weltkrieg
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Leningrad
Bedingungslose Hingabe

Über seine "Feuertaufe" der Hingabe schreibt Pater Hans Weßling:
Warum hat Gott mich in seinen Dienst gerufen? Es gab doch viele, die würdiger waren als ich. Ich kann mir nur eine Antwort auf diese Frage geben. Er wollte zeigen, dass es nicht auf das Material ankommt, sondern auf ihn, den Künstler, der aus Steinen Kinder Abrahams machen kann.
Immer deutlicher vernahm ich seinen Ruf: "Komm, folge mir!" Im Noviziat hatte ich ihm entwischen wollen. Er hat mich nicht losgelassen. Im Gegenteil, immer näher zog er mich an sich. Im Sturm des Krieges läuterte er mich wie Gold im Feuerofen. Bedingungslos habe ich mich ihm ergeben. Der Tag, an dem das geschah, war der 17. März 1944, in dem kleinen Dorf Appyscha, nördlich von Pleskau. Über Nacht waren wir hierhin verlegt worden. Unsere Geschütze hatten wir bei Dunkelheit in Stellung gebracht. An jedem dieser Geschütze blieben zwei Mann auf Wache stehen.

Hans Weßling auf Winterposten vor Leningrad.Hans Weßling auf Winterposten vor Leningrad.

Die anderen lagen todmüde auf dem Boden eines Kellers in einem benachbarten Haus. Noch ehe der Morgen graute, überfiel uns ein mörderisches Feuer. Das Gedröhne der Bomben und Granaten war so gewaltig, dass man weder Abschuss noch Einschlag unterscheiden konnte. Die Luft im Keller war voller Brandstaub. Wir drohten zu ersticken. Alles drängte zu einer Kellerluke. Mein erster Gedanke: "Hier kommst du nicht mehr raus!" Aber wirklich, nur für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich so. Dann war es wieder da, dieses befreiende Wort "Du wirst dein Ziel erreichen!" Jetzt war ich gewiss, der Herr verlässt mich nicht.
Über uns brannte das Haus. Wir eilten hinaus zu unseren Geschützen. Um uns das Grauen! Bomben, Granaten und die Stalinorgel. Das schlimmste Trommelfeuer meines Lebens hatte begonnen. Plötzlich setzte Ruhe ein, unheimliche Ruhe. Ich schaute auf meine Taschenuhr, meinte es müsste Mittag sein. Acht Uhr morgens war es. Dann wagte ich, den Kopf über den Rand meines Loches zu heben. Ich schreckte zurück! Ein russischer Panzer fuhr unmittelbar an unseren Geschützen vorbei. Warum nur einer? Wir sollten es bald wissen. Der Panzer kam um zu erkunden. Er drehte zurück auf die russische Stellung zu. Im Niemandsland versackte er in einem zugefrorenen Bombentrichter. Doch die Besatzung konnte noch zu den russischen Gräben laufen.
Minuten später setzte wieder mörderisches Feuer ein. In Appyscha tobte die Hölle. Rund um unsere Stellung prasselte die Stalinorgel nieder. Und dann die Sekunden des Grauens. Die letzte Granate dieses ersten erneuten Feuerüberfalls schlug am Rande meines Loches ein. Ich höre es heute noch und werde es nie im Leben vergessen, mit welchem Luftdruck sie auf mich zusauste, wie es mich erdrückte. Mein Karabiner, der oben auflag, fiel mir zerfetzt in den Rücken. Ich kauerte am Boden, kratze mit den Fingernägeln den angefrorenen Boden an und rief: Deus in adjutorium meum intende! Domine ad adjuvandum me festina! (Oh Gott, komm mir zu Hilfe! Herr eile mir zu helfen!) Nichts, gar nichts hatte ich abbekommen. Ich betastete mich. Dann kam es aus innerstem Herzen heraus: "Herr, hier bin ich! Ich will Priester werden, ein heiliger Priester!" Im Nachbarloch mein Kamerad Hans Linz. Er konnte es nicht verlassen. Rundum noch tödliches Gewitter. So wie es etwas stiller wurde, wagten wir beide Blicke über den Rand unserer Löcher. Seine fragenden Augen verrieten mir alles. Unfassbar für ihn, dass mir nichts geschehen war.
Zwei Tage hielt dieses mörderische Feuer an. Zum Glück war es in den Nächten ruhiger. Als wir am 19. März in der Morgenfrühe aus Appyscha abgezogen wurden, war ich ein anderer. Restlos hatte ich mich dem Herrn übergeben.

Aus: Jürgen Klosa, "Eine Generation verabschiedet sich", Übach-Palenberg, 2004.
ISBN: 3-00-014237-1

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