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Mauerfall
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Buchauszug
Der Kniefall von Warschau

Schon 1970, doch auch später bin ich gefragt worden, warum ich nicht den Vertrag, der mit dem unsäglich mißhandelten Polen zu schließen war, dem mit der Sowjetunion vorgezogen hätte. Dies war eine rein akademische Frage, auch im Verständnis der polnischen Führung. Es gab keine Wahl, der Schlüssel zur Normalisierung lag in Moskau. Und da war ja nicht nur die Macht zu Hause, sondern ein Volk, das ebenfalls schrecklich gelitten hatte.
Aber ich gebe zu: Die Polen, im Volk wie in der Führung, hätten es vorgezogen, wenn unsere Erklärung zur Oder-Neiße-Grenze zuerst in Warschau zu Protokoll gegeben worden wäre; als »Geschenk der Russen« erschien sie nur halb soviel wert. Die Führung wußte allerdings, was die Öffentlichkeit so noch nicht wissen konnte: Eine von mir geführte Regierung werde bereit sein, die neue polnische Westgrenze vertraglich hinzunehmen. Ich hatte es während des Wahlkampfes 1969 signalisiert, also bevor klar war, ob ich die neue Regierung würde bilden können. 1970 machte ich mir den polnischen Vorschlag zu eigen, im Warschauer Vertrag die Feststellung zur Grenze an die erste Stelle zu setzen und den Gewaltverzicht folgen zu lassen.
Als ich am Nachmittag des 7. Dezember 1970, im Anschluß an die Vertragsunterzeichnung, mit Wladyslaw Gomulka sprach, tauchte das Problem der Reihenfolge wieder auf. Wohlmeinende polnische Journalisten hatten den Wunsch lanciert, daß wir im Ratifizierungsverfahren den Warschauer Vertrag dem Moskauer vorzögen. Gomulka: Bitte nicht die Realität aus dem Auge verlieren. Jeder Versuch, Polen aus seinem Bündnis zu lösen oder gar einen Keil zwischen sein Land und den großen östlichen Nachbarn zu treiben, müsse scheitern. Im übrigen sei der Vertrag von Moskau früher abgeschlossen worden, beide sollten gleichzeitig oder kurz nacheinander ratifiziert werden.
Gewiß wollten die Polen nicht als Anhängsel ihrer Führungsmacht behandelt werden. Und ebenso gewiß mißbehagte ihnen der Gedanke, Russen und Deutsche könnten Textübungen über eine Frage abhalten, die sie als existentiell empfanden. Die Bitternis, die ihr Verhältnis zur Sowjetunion prägte, verbargen die Polen nicht; daß Stalin ihr Offizierskorps hatte vernichten lassen, daß die Rote Armee 1944 an der Weichsel stehen geblieben war und zugesehen hatte, wie Warschau verblutete, daß die eigenen Ostgebiete für verloren gelten mußten, wurde nirgends ausgesprochen und doch mancherorts angedeutet. Man war auch in der Folge sehr darauf aus, nicht von den Russen abgehängt zu werden. Als ich mich im September 1971 mit Breschnew auf der Krim traf, erreichte mich die Bitte, auf dem Rückflug in Warschau Station zu machen. Ich meinte, darauf wegen anderer Verpflichtungen nicht eingehen zu können. Später fragte ich mich, nicht nur auf diesen Fall bezogen, ob man sich nicht zu sehr zum Sklaven seines Terminplans gemacht habe.
Josef Cyrankiewicz, Überlebender von Mauthausen, Exponent des sozialdemokratischen Teils der PVAP, der kommunistischen Einheitspartei, und Ministerpräsident, meinte zu Beginn der Warschauer Gespräche: Unsere beiden Regierungen sollten sich auf eine Art psychoanalytische Kur einstellen und erst einmal zutage fördern, was nicht in Ordnung sei; das therapeutische Gespräch folge. Vielseitige Zusammenarbeit könne helfen, den Rest besorge die Zeit, die heilsam sei. Gomulka, am Vorabend der Vertragsunterzeichnung: Für den Prozeß der Annäherung sollten wir mindestens ein Jahrzehnt ins Auge fassen. Eine Perspektive, die immer noch zu kurz gegriffen war.
Der erste Mann der Partei und de facto des Staates scheiterte noch
in jenem Dezember an Protesten gegen die unzulängliche Versorgung. Demonstrierende Arbeiter, nicht zuletzt in Danzig, zwangen ihn zum Rücktritt. Er war eine im Widerstand gehärtete Persönlichkeit; in den frühen fünfziger Jahren hatte man ihn als »Titoist« eingesperrt, 1956 war er, gegen den Willen Chruschtschows, zum Parteichef aufgestiegen. Das Ritual der langen Reden, die die Diskussion ersetzten, beherrschte er wie alle kommunistischen Führer. »Unter vier Augen« - mit Einschluß der Dolmetscher: acht - trug er zwei Stunden vor; ich brauchte schon aus Prestigegründen mindestens eine zur Erwiderung, und dann ging es weiter im Programm.

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