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Mauerfall
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Buchauszug
Wir waren schrecklich schlecht vorbereitet. Als es passiert war, haben wir zunächst kaum Besseres gewußt, als zu tönen: »Die Mauer muß wieder weg.« Gegenmaßnahmen, die etwas hätten bewirken können, waren auf Seiten der Westmächte nicht gefragt. Es drohte eine tiefe Vertrauenskrise. Denn was für die Berliner ein Tag des Entsetzens war, sollte für die westlichen Regierungen objektiv zu einem Datum der Erleichterung werden: Ihre Rechte, auf West-Berlin bezogen, blieben unangetastet, die befürchtete Kriegsgefahr war abgewendet.
Warum nicht ungeschminkt zugeben: Mit vielen meiner Mitbürger war ich enttäuscht, daß »der Westen« sich als nicht willens oder fähig erwies, es jedenfalls nicht vermocht hatte, gestützt auf den vielzitierten Viermächtestatus Initiativen abzuleiten, die Deutschland und Europa das Monstrum jener »Mauer der Schande« erspart hätten. Es blieb damals wenig Zeit und Lust, sich in die Interessenlage der östlichen Seite hineinzuversetzen und Chruschtschows Wort von der Mauer als einer Notlösung - einer Feuerwehraktion zur Rettung der DDR - einzuschätzen. Nikita Chruschtschow fragte Botschafter Kroll im Herbst 1961: Was er denn habe tun sollen, bei so vielen Flüchtlingen? Der deutsche Botschafter hielt wörtlich fest: »Ich weiß, die Mauer ist eine häßliche Sache. Sie wird auch eines Tages wieder verschwinden [...] aber erst dann, wenn die Gründe für ihre Errichtung gefallen sind.«
Erst im nachhinein ist einer größeren, wenn auch nicht allzu großen Zahl von Deutschen klargeworden, daß man von den Amerikanern, den Westmächten überhaupt nicht mehr erwarten konnte, als sie - über die wacklig gebliebenen Viermächterechte hinaus - versprochen hatten. Das waren die drei essentials, die sich der NATO-Rat auf seiner Osloer Frühjahrstagung 1961 zu eigen gemacht hatte: Anwesenheit, Zugang, Lebensfähigkeit. Von Berlin als gesamtstädtischem Gemeinwesen war darin nicht die Rede, und John F. Kennedy hat dann auch, als er im Juni 1961 mit dem ersten Mann der Sowjetunion in Wien zusammentraf, über Ostberlin nicht gesprochen. Die Beschränkung auf West-Berlin war die eigentliche westliche »Konzession«. Als Kennedy sich in jenem Krisensommer, genau am 25. Juli 1961, in einer Rede an die amerikanische und internationale Öffentlichkeit wandte, wurde in Moskau der zutreffende Schluß gezogen, daß seine Garantie an der Sektorengrenze ende. Umgekehrt befand der Amerikaner, nach dem Zeugnis von Mitarbeitern, Chruschtschow habe »nachgegeben«. Warum hätte er dem Bau der Mauer zustimmen sollen, wäre es die Absicht gewesen, ganz Berlin zu besetzen? Das Berlin-Ultimatum und die Drohung mit einem separaten Friedensvertrag hatte die sowjetische Seite schon im April 1961, vor dem Wiener Gipfel, erneuert; hernach war auf beiden Seiten vom möglichen Abgleiten in einen Nuklearkrieg die Rede. Der Kennedy-Vertraute Arthur Schlesinger berichtet: »Und er dachte während dieses Sommers an kaum etwas anderes.«
Der amerikanische Präsident hatte im Wiener Abschlußgespräch gesagt: Es sei Sache seines Gegenübers, was hinsichtlich der DDR geschehe. Die USA könnten und wollten sich nicht in Entscheidungen einmischen, die die Sowjetunion »in ihrer Interessensphäre« treffe. Senator Fulbright sprach in einem Fernsehinterview Ende Juli aus, was Kennedy dachte: Er verstehe nicht, weshalb die DDR-Behörden nicht dichtmachten; sie hätten alles Recht dazu. Ein Satz, den er aufgrund des Pressewirbels zurückzog und den er doch nicht ungesagt machen konnte.

Es stellte sich heraus, daß die Alliierten einer falschen Krise entgegengezittert hatten. Was für uns in Berlin ein grausamer Einschnitt war und das eigene Land beschwerte, empfanden andere als Erleichterung, jedenfalls als das kleinere Übel. Für Freizügigkeit im geteilten Deutschland waren weder die westeuropäischen Mächte noch die Amerikaner Verpflichtungen eingegangen. Für das Schicksal der tausendfach auseinandergerissenen Familien fühlten sie sich nicht mitverantwortlich, und ein gewisses Verständnis für »die Russen« war manchem westlichen Entscheidungsträger auch nicht fremd. Einen so honorigen, einflußreichen und welterfahrenen Mann wie den erwähnten Senator William Fulbright hörte man nun sagen, die Russen gingen zwar brutal vor, doch sei es verständlich, daß sie in ihrem deutschen Herrschaftsbereich für Ordnung sorgten.

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