1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Neuanfang
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Buchauszug
Ein vorübergehender tschechischer Gendarm fragte mich, warum die Frau so blau sei, worauf ich die Bemerkung machte, dass sie höchstwahrscheinlich Gift genommen hat. Darauf begann er entsetzlich zu fluchen. Er nannte die Tote eine Nazi-Hure, Drecksau, deutsches Schwein, die nach zwei Tagen Lager schon mit Selbstmord endet und gab mir den Befehl: >Werfen Sie die Drecksau samt dem Bankerten in die Latrine.< Auf meine Einwendung hin, dass ich Rotkreuzschwester bin, unter Eid stehe und eine solche Tat nicht ausführen kann und auch nicht will, auch wenn er mich selbst erschießen würde, beschimpfte er mich mit >deutsches Schwein und deutsche Hure<, rief aber dann drei andere Frauen, die er eher gefügig machen konnte, weil sie den Drohungen keinerlei Argumente entgegenzusetzen wagten, und zwar waren diese Frauen Agnes Skalicky, Straßenbahnerswitwe aus Leskau [Liskovec] 63 Jahre alt, eine dreißigjährige Franziska Wimetal und eine dritte Frau, die mir dem Namen nach unbekannt ist. Diese Frauen mussten nun die tote Mutter mit dem toten Säugling in die offene Latrine werfen. Partisanen zwangen dann die Insassen des Lagers, diese Latrine zu benutzen, damit, wie sie riefen, >die Drecksau mit dem Bankert so schnell wie möglich unsichtbar wird<. Und das vollzog sich auch.«

Die Zeitatmosphäre ist mit der in normalen Zeiten - was immer normale Zeiten sein mögen - nicht vergleichbar; das muss der Zeitgenosse, der überlebt hat, vor allem aber der Nachgeborene bedenken. Prinzipien wie nulla poena sine lege oder die Unschuldsvermutung, erst recht der Eigentumsbegriff, waren zerbrochen und wirkten gegenüber der mörderischen Realität von Krieg und Nachkrieg wie bürgerlicher Plunder. Umso mehr muss man an die Menschen — wiederum aller Seiten - erinnern, die trotz der Rohheit der Zeit mit anderen leiden konnten oder den Leidenden zu helfen versuchten. Auch diese Fälle verlangen nach Dokumentation - als Nachweis, dass der Prozess der Verrohung nicht alle ergreift.

Kein Mord, keine Folterung ist allerdings entschuldbar mit der Phrase von der »revolutionären Gerechtigkeit«, mit dem Hinweis auf die vorherigen Verbrechen der jeweils anderen. Die Sätze, die mit »Was wundert Ihr euch?« eingeleitet werden, behandeln »very grave wrongs« mit einer nonchalanten Alltagspsychologie, die brutales Hin- und Hermorden, also Blutrache rechtfertigen soll. Vierzehnjährige Jungen auszupeitschen und anschließend zu erschießen, weil sie aus Hunger Äpfel vom Baum gestohlen haben, ist ein Verbrechen, selbst wenn diese Burschen die Söhne von Verbrechern gewesen sein sollten. Sicher war nur, dass sie die Söhne von Deutschen waren. Dass solche Verbrechen zwischen Mai und Oktober oder November 1945 tausendfach vorkamen, hatte allerdings konkrete Gründe in der politischen Strategie des Transfers der deutschen und magyarischen Minderheit.
Beness Regierung fühlte sich unter Druck. Die Potsdamer Konferenz, die die Aussiedlung der Deutschen (nicht der Magyaren) schließlich akzeptierte, war erst im August. Der erfahrene Außenpolitiker Benes spürte, dass die Amerikaner und Briten von ihren Zusagen während des Kriegs, die Deutschen zu »transferieren«, immer mehr abrückten. Nur Stalin stand in unbeirrbarer, selbstverständlicher Brutalität zu seinem Wort. Die antideutsche Stimmung der Bevölkerung war zwar eindeutig und erschien auch haltbar. Aber es war hochkompliziert, zigtausend Deutsche zum Beispiel aus einer Mittelstadt zu erfassen, zusammenzuführen und rasch über eine Grenze zu bringen, hinter der oft genug Leute standen, die die Ausgewiesenen nicht wollten. Es war ein logistisches Riesenproblem, und es schien leichter lösbar, wenn es in der entfesselten Stimmung der ersten Nachkriegsmonate geregelt wurde. Es ging der tschechischen Regierung darum, »die Großmächte vor vollendete Tatsachen zu stellen«.

Quelle: Peter Glotz
Die Vertreibung
ISBN: 3-550-07574-X
Ullstein Berlin Verlag

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