1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Neuanfang
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Buchauszug
In Brünn (Brno), der mährischen Hauptstadt, wurde Ende Mai die Unruhe immer größer. Viele Belegschaften der Brünner Betriebe verlangten die sofortige Aussiedlung der arbeitsunfähigen deutschen Bevölkerung. Es dauerte bis zum 29. Mai, bis der Rat des Landesnationalausschusses einen Erlass beschloss, demzufolge die »Hinausführung« der deutschen Bevölkerung aus Brünn angeordnet wurde. Das Ganze sollte mit dem Innenminister abgesprochen werden. Wohin die Leute »hinausgeführt« werden sollten, war noch nicht festgelegt.
Am 30. Mai dramatisierte sich die Lage. Die Vertreter des Betriebsrats der Brünner Waffenfabriken drängten auf einen raschen Hinauswurf der Deutschen. Eine (kommunistisch geführte) Delegation erschien bei dem kommunistischen Oberbürgermeister Manila. Sie drohte dem offenbar ein wenig ratlosen Mann. Wenn die staatlichen Stellen jetzt nicht handelten, würden die Arbeiter aus den Fabriken die Umsiedlung der Deutschen selber durchführen.
Der Bürgermeister berief eine außerordentliche Sitzung des Nationalausschusses von Großbrünn ein. Dort tauchte dann erstmals die Bemerkung auf, dass die deutsche Bevölkerung in Richtung auf die österreichische Grenze hin« »hinausgeführt« werden sollte.
Ab neun Uhr abends trommelte man die Deutschen aus ihren Wohnungen und konzentrierte sie auf unterschiedlichen Plätzen der Stadt. Gegen Morgen führte man sie in verschiedenen Marschsäulen hinaus. Die arbeitsfähigen Deutschen zwischen vierzehn und sechzig Jahren sollten in einem Lager in Brünn-Malmaritz (Malomerice) konzentriert werden. Wahrscheinlich gab es keine einheitliche Konzeption, was mit den Frauen, den Kindern und den alten Leuten passieren sollte. Die Radikalen wollten sie gleich über die österreichische Grenze treiben, andere wollten sie in irgendwelchen Dörfern an der Grenze unterbringen. Es war Fronleichnam, ein drückend heißer, schon frühsommerlicher Tag, der sich abends in einem Gewitter entlud. Der Zug bestand aus knapp 30000 Menschen. 10000 konnte man wirklich über die österreichische Grenze abschieben.
Aber dann begannen die Österreicher sich zu wehren. Also wurden zigtausend Menschen in Scheunen, Baracken oder Fabrikhallen der großen Gemeinde Pohrlitz (Pohorelice) untergebracht. Diese Gemeinde war auf eine solche Menschenmasse natürlich überhaupt nicht vorbereitet. Der tschechische Historiker Tomas Stanek zog folgende Bilanz: »Der Aufenthalt im improvisierten Lager in Pohrlitz und in den umliegenden Gemeinden führte zu zahlreichen Tragödien. Entsprechend einem Bericht des Ministeriums des Inneren vom Dezember 1947 verstarben in Pohrlitz zwischen dem 31. Mai und dem 5. Juli 1945 insgesamt 408 namentlich belegte Personen. Darüber hinaus wurden 77 Tote ausgewiesen, deren Identität nicht festgestellt werden konnte.«

Eine deutsche Krankenschwester erinnerte sich sechs Jahre danach an folgende Geschichte:
»Die zweite Tote, die mir in Erinnerung ist, war eine etwa dreißigjährige Frau, die mit zwei Kindern, einem etwa dreijährigen Mädchen und einem einige Wochen alten Säugling, auf dem Beton lagerte. Beim Morgengrauen hörten wir das dreijährige Kind wimmern und nach der Mutter rufen und mussten feststellen, dass diese Frau durch Gift Selbstmord begangen hat. Ihr Gesicht war blau geworden. Aber auch der Säugling war von der toten Frau so fest an die Brust gedrückt, dass das Kind auch tot war.

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