1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Antisemitismus
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Buchauszug
Globocniks Zuständigkeit reichte eindeutig über den Distrikt Lublin hinaus, was etwa daran zu sehen ist, daß er in dem zum benachbarten Warschauer Distrikt gehörenden Treblinka ein Vernichtungslager errichten ließ. In der chaotischen Welt der NS-Verwaltung war jedoch nichts einheitlich organisiert. Welche Rolle Globocnik und die ihm für die «Aktion Reinhard» unterstellten Männer von Distrikt zu Distrikt spielten, variierte beträchtlich, vor allem im Hinblick auf die Bereitstellung von Personal und Fachwissen, je nachdem, wieviel der örtliche SS- und Polizeiführer jeweils aus eigener Kraft zu erledigen vermochte. In einem Bereich aber konnte keine Verantwortung übertragen werden: Nur Globocniks Männer waren in der Lage, in den Vernichtungslagern die Aufnahme von Transporten zu koordinieren, die dort nicht nur aus den verschiedenen Regionen des besetzten Polens, sondern auch aus anderen Teilen Europas eintrafen. Da Ghettoräumungs- und Deportationsaktionen gleichzeitig in vielen Gegenden Polens und Europas stattfanden, wurde die Koordination der zeitlichen Abläufe zu einer immer komplexeren Aufgabe.
Die erste Phase der Aktion Reinhard begann am 16. März und endete am 14. April. Zu dieser Zeit war erst ein einziges Vernichtungslager in Betrieb: Belzec. Dorthin kamen Transporte aus den beiden Distrikten Lublin und Galizien. Die begrenzte Kapazität des Lagers wurde sehr bald überschritten. Ein Problem war die Beseitigung der Leichen. Als Franz Stangl dem Lager von Belzec seinen ersten Besuch abstattete, empfing ihn der entsetzliche Anblick eines überquellenden Massengrabs. Durch die Verwesung waren überall Flüssigkeiten ausgetreten und Leichname hochgedrückt worden. Ein zweites Problem war die Kapazität der Gaskammern. Die in einer einzelnen Holzbaracke untergebrachten drei kleinen Gaskammern funktionierten nicht immer richtig. Oft wurde nur in einer oder zwei von ihnen gleichzeitig getötet. Daher riß man die alte Gaskammernbaracke Mitte April ab und errichtete in den folgenden fünf Wochen am selben Ort ein neues, größeres Steingebäude mit sechs Gaskammern; in dieser Zeit nahm Belzec keine Transporte auf.
Das Deportationsprogramm kam daher bis zum 3. Mai, als in Sobibor ein zweites Lager eröffnet wurde, völlig zum Erliegen. Nach Sobibor gingen zunächst Deportationstransporte aus dem Distrikt Lublin, während das Lager von Belzec, nachdem es Ende Mai mit vergrößerter Vernichtungskapazität wiedereröffnet worden war, als erstes Transporte aus dem Distrikt Krakau aufnahm. Diese Deportationswelle endete am 19. Juni, als für sämtliche Judendeportationen im Generalgouvernement die Nutzung der knappen Transportkapazitäten zeitweilig unterbunden wurde.
Der Transportmittelengpaß wurde durch einige andere Faktoren noch verstärkt. Zum einen sollte die Bahnlinie nach Sobibor wegen dringender Reparaturarbeiten vorübergehend stillgelegt werden, wodurch das Lager bis zum Oktober praktisch nicht zu erreichen gewesen wäre. Darüber hinaus machte den Koordinatoren der «Aktion Reinhard» in Lublin während dieser Monate noch eine weitere Komplikation zu schaffen. Während sie für die Räumung des Distrikts Lublin sorgten, kamen zügeweise Juden aus Deutschland, Österreich, Böhmen, Mähren und der Slowakei an. Diese Juden von außerhalb Polens wurden nicht direkt in die Vernichtungslager geschickt, da deren Aufnahmekapazität so begrenzt war. Statt dessen brachte man diese Menschen zunächst in die gerade geräumten Ortschaften des Lubliner Distrikts, bis schließlich auch sie die letzte Reise zu den Gaskammern antreten mußten. Einige dieser Orte, wie Piaski, Izbica und Miedzyrzec Podlaski, wurden richtiggehend zu «Durchgangsghettos» bestimmt und mehrfach gefüllt und wieder geräumt.
In dieser Krisensituation griff der offensichtlich frustrierte Himmler im Frühsommer 1942 persönlich ein und wies seinen Stabschef Karl Wolff an, dem Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium Albert Ganzenmüller telefonisch die dringende Bitte des Reichsführers SS um «schnellstmöglich[e] Behebung dieser Transportstockungen» zu übermitteln. Außerdem heizte Himmler seinen Männern in Polen ein und ließ sie am 19. Juli wissen, daß die «totale Bereinigung» der Lage im Generalgouvernement bis Jahresende erfolgt zu sein habe.
Mit der teilweisen Aufhebung des Transportverbots Anfang Juli kamen die Deportationen der «Aktion Reinhard» langsam wieder in Gang. Zunächst fuhren zweimal pro Woche Züge von Ghettos im Distrikt Krakau nach Belzec. Ab Ende Juli trafen in Belzec auch Transporte aus Galizien ein. Aber erst nach der Eröffnung von Treblinka am 23. Juli verfügten die Nationalsozialisten über die Tötungskapazität für das von Himmler so dringlich geforderte verschärfte Deportationstempo.

Quelle: Christopher R. Browning
Der Weg zur "Endlösung"
ISBN: 3-499-61344-1
Rowohlt Verlag GmbH Berlin, Juni 2002, 8,90 Euro

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