1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Opposition in der DDR
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Buchauszug
Aber das innen- und außenpolitische Umfeld hatte sich verändert: Die wichtigsten Verbündeten befanden sich inzwischen auf Reformkurs, und die meisten DDR-Bürger hielten ihre Regierung nicht mehr nur für reformunwillig, sondern auch für reformunfähig. Die SED-Führung war deshalb weithin isoliert; ihr Verhalten stieß nahezu überall auf Kritik, ja Verständnislosigkeit.
Vor diesem Hintergrund fassten offenbar immer mehr DDR-Bewohner den Entschluss, ihrem Land so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Allein 120 000 von ihnen stellten im Sommer 1989 einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Im Juli und August versuchten darüber hinaus Hunderte, ihre Ausreise durch die Besetzung westlicher - vor allem westdeutscher - diplomatischer Vertretungen in Budapest, Warschau, Ost-Berlin und Prag zu erzwingen. Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin und die Botschaft in Prag mussten sogar wegen Überfüllung geschlossen werden. Etwa 600 DDR-Urlauber nutzten zudem am 19. August 1989 ein Fest der «Paneuropa-Union» bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht nach Österreich, während die ungarischen Grenzposten die Massenflucht zwar beobachteten, aber demonstrativ untätig blieben.
Der Flüchtlingsstrom aus der DDR über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik schwoll nun immer mehr an. Täglich trafen zwischen 100 und 200 Ostdeutsche in Aufnahmelagern in Bayern ein, bis die DDR-Regierung am 5. September von der ungarischen Regierung informiert wurde, dass es vom 11. September an DDR-Bürgern erlaubt sein werde, die Grenze nach Österreich legal zu überschreiten. Jetzt flohen nicht nur Hunderte, sondern Tausende täglich. Bis Ende September waren es bereits 32 500. Im SED-Politbüro beschuldigte Günter Mittag, der für den erkrankten Honecker die Amtsgeschäfte führte, die Ungarn des «Verrats am Sozialismus» und konnte doch nur resigniert den Bericht eines Abgesandten entgegennehmen, der nach Budapest geschickt worden war, um «die Dinge zu verlangsamen», und von dort mit leeren Händen zurückkehrte: Die Ungarn hatten die Kontrolle verloren und - schlimmer noch - besaßen auch nicht die Absicht, sie zurückzuerlangen. Außenminister Gyula Horn, so hieß es, sei dort jetzt die «treibende Kraft», während das ungarische Militär den «Erwartungen der DDR» zwar loyal gegenüberstehe, aber aufgrund innerer Uneinigkeit nicht mehr handlungsfähig sei. Die Bitte von DDR-Außenminister Oskar Fischer, ein Warschauer-Pakt-Treffen einzuberufen, um die Ungarn zur Räson zu bringen, wurde von Gorbatschow mit dem Hinweis abgelehnt, die Zeit, als eine Abweichung von der allgemeinen Linie durch den Druck der Mehrheit habe korrigiert werden können, sei vorüber. Die DDR stand allein. Zugleich nahmen die Proteste und Demonstrationen innerhalb der DDR zu. Seit Juni wurden am 7. jeden Monats Protestaktionen veranstaltet, um an die Manipulation der Kommunalwahl vom 7. Mai zu erinnern. Darüber hinaus begannen am 4. September in Leipzig nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche etwa 1200 Menschen mit den «Montagsdemonstrationen», auf denen Forderungen nach Reise- und Versammlungsfreiheit laut wurden. Bis zum 25. September stieg die Teilnehmerzahl auf 5 000, am 2. Oktober waren es bereits 20 000. Ermutigt durch den Erfolg dieser Aktionen bildeten sich nun auch politische Organisationen, die sich zum Teil als Parteien, zum Teil als Bürgerbewegungen begriffen. Am 26. August entstand die «Sozialdemokratische Partei in der DDR», am 9./10. September das «Neue Forum», am 12. September «Demokratie jetzt» und am 14. September der «Demokratische Aufbruch». Erstmals in ihrer Geschichte sah sich die SED damit einer organisierten innenpolitischen Opposition gegenüber, die darüber hinaus durch die Liberalisierungstendenzen in Osteuropa und die wachsende Fluchtbewegung zunehmend Auftrieb erhielt.
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