1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Weltkrieg/Mobilmachung
Seite 1 | 2 | 3 
Buchauszug

In dieser inneren Befreiung der ganzen Nation von ihren abgelebten Konventionen, in diesem >Aufbruch< ins Ungewisse, ins ungeheure Wagnis, ganz gleich wen es verschlinge, sahen wir den Sinn des Kriegs, den Quell unsrer Begeisterung. Eroberungsziele, Machtansprüche waren für uns kein Thema. Wenn wir »Freiheit« riefen, meinten wir es gewiß im primitiven, im nationalen Sinn: unser Volk sollte befreit werden von der Bedrohung seiner Existenz (an die wir, wie alle kriegführenden Völker, bedingungslos glaubten), auch vom Druck einer Welt-Gegnerschaft, die ihm die freie Entfaltung seiner Kräfte versagen wollte. Aber wir meinten mehr. Es war keineswegs >militaristischer<, es war revolutionärer Geist, der in den Barackenlagern und Zeltställen der Kriegsfreiwilligen, in den Rekrutendepots von 1914 lebte. Die Jüngsten kamen wie ich von der Schulbank, viele von den umliegenden Universitäten, Heidelberg, Marburg, Gießen, und den Polytechniken, aber außer diesen gab es die jungen Arbeiter, Lehrlinge, Kaufleute, Landwirte, Künstler, einen Durchschnitt durch alle Stände und Klassen. Neben mir auf dem Strohsack schnarchte ein Schauspieler vom Mainzer Stadttheater, auf dem andern ein junger Maschinenschlosser, dessen Vater in der Fabrik meines Vaters an der Metallwalze stand. Gerade mit solchen, die aus dem - uns bisher kaum oder nur oberflächlich bekannten - Proletariat kamen, ergaben sich jetzt und später im Feld die stärksten Bindungen, und man tat gut, sich an sie zu halten. Sie hatten uns, den Söhnen des gepflegten Bürgertums, den Sinn für das Reale voraus, sie waren tüchtiger, geschickter, bedürfnisloser als wir, und man war stolz, daß es nicht, wie sonst zwischen >Einjährigen< und >Gemeinen<, einen Unterschied in der Behandlung und im Zusammenleben gab. Diese Sprengung des Kastengeistes hatte nichts von kommandierter >Volksgemeinschaft<, sie war durch keine materiellen Interessen und keine ideologische Doktrin unterbaut, sie ergab sich von selbst, sie hatte einen naturbestimmten, elementaren Zug oder wurde von uns jungen Menschen so erlebt und geglaubt. Tatsächlich war sie das beste und produktivste Element, das uns aus all den Umwälzungen der kommenden Zeit erwachsen konnte. Bei uns im Südwesten Deutschlands lebte wohl das Gedankengut der Revolution von 1848 und der Frankfurter Paulskirche noch stärker fort als anderwärts, und dieser Tenor beherrschte die Gespräche und Diskussionen, in denen wir bis zur Abstraktion, zur Kategorie, zur philosophischen Deutung unserer recht handgreiflichen Erlebnisse vorzudringen suchten. Todmüde von Pferdetransporten, zu denen man uns zunächst, bis das Ausbildungspersonal beisammen war, verwendete, dann von Stalldienst, erstem Reitunterricht, Geschützexerzieren, Marschübungen, und dazwischen von endloser Warterei, Abzählen, Appellen, gingen doch noch die halben Nächte im Debattieren hin, in jenen flüchtig aufgebauten, geteerten Baracken oder Turnhallen oder Wirtshaussälen, wo man uns aus Platzmangel in den Kasernen bis zu fünfzig und hundert Mann zusammengepfercht hatte. Ich höre noch die ausgesoffene, heisere Baßstimme des dicken Heidelberger Studenten von ungezählten Semestern, eines Troeltsch-Schülers, wenn er uns den Geist der Zeit erklärte und immer wieder in die Prophezeiung ausbrach: so wie der Krieg 70 die deutsche Einheit, so werde der Krieg 14 das deutsche Recht und die deutsche Freiheit bringen. Unser Sieg (an dem keiner zweifelte) bedeute ein neues, kulturell und politisch geeintes Europa unter der Ägide des deutschen Geistes, es werde erst dann zu einer wahren Verständigung der Nationen kommen, die auch uns einen neuen Horizont erschließen müsse, und dem heimkehrenden Volksheer werde Berlin das freie, allgemeine und geheime Wahlrecht nicht verwehren können. (Noch mehr Freiheit konnten wir uns nicht ausdenken.) Der Kaiser, auf den wir unseren Fahneneid schworen, war für uns der, der am 4. August gesagt hatte: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!« und von seinem Reichstag, einschließlich der Sozialdemokraten, begeistert akklamiert worden war. Das aber war für uns ein Versprechen, und wir erwarteten, als Kriegsziel, eine reformierte, konstitutionelle Monarchie, deren eigentliche Regierungsform demokratisch sei. In einer dieser Nächte wurde, trotz aufgerittener Hintern und strapazierter Muskeln, mit verteilten Rollen das > Jahrhundertfestspiel in deutschen Versen< gelesen, das Gerhart Hauptmann zur Erinnerung an die Freiheitskriege geschrieben hatte, und wir belustigten uns über den preußischen Kronprinzen, der es, ein Jahr vorher, in Breslau hatte verbieten lassen. Die Debatten gingen nach allen Richtungen ins Uferlose, Religion, Soziologie, Griechentum, Idealismus im Sinne von Kant und Schiller oder Goethes Naturdämonie mit einbeziehend, bis die barsche Stimme eines Fuhrknechtes oder Rheinschiffers »Ruhe!« brüllte, weil er, mit Recht, Schlafen für wichtiger hielt. Ich weiß nicht viel von mir selbst aus dieser Zeit, auch nicht, was ich in freien Stunden geschrieben habe. Ich weiß nur, ich war ein Anderer geworden, den ich nicht gekannt hatte. Alle waren Andere geworden, und es war, als ob wir uns alle, uns selbst und untereinander, ganz neu, zum ersten Mal, kennenlernten.

Quelle: Carl Zuckmayer
"Als wär`s ein Stück von mir"
S. Fischer Verlag
ISBN: 3596210496

Seite 1 | 2 | 3 
Druckversion Druckversion
Fenster schliessen
Fenster schliessen